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       # taz.de -- Grüne Migrationspolitikerin über Flüchtlingsgipfel: „Es ist sehr schwierig für uns“
       
       > Die Grünen haben Finanzhilfe mit Verschärfungen erkauft. Filiz Polat,
       > migrationspolitische Sprecherin in Niedersachsen, hält die Beschlüsse für
       > falsch.
       
   IMG Bild: So sieht das Leben der Roma in den sicheren Herkunftsländern aus: ein Junge im serbischen Vidikovac
       
       taz: War die Zustimmung der Grünen beim Flüchtlingsgipfel klug oder
       schäbig, Frau Polat? 
       
       Filiz Polat: Jedes Bundesland bewertet die Ergebnisse jetzt individuell.
       Einerseits sind für die Grünen jetzt Verschärfungen enthalten, auf der
       anderen Seite sagt ein Großteil unserer Leute, dass durch unsere
       Verhandlungen einiges für die Flüchtlinge erreicht wurde.
       
       KritikerInnen sagen, dass jetzt offiziell die Zweiklassengesellschaft für
       Flüchtlinge beginnt, mit den Guten aus Syrien und den Schlechten vom
       Balkan. 
       
       Für uns Grüne in Niedersachsen ist ganz klar, dass diese Beschlüsse erst
       einmal nicht positiv zu bewerten sind. Und die finanzielle Beteiligung des
       Bundes an den Kosten, die viele jetzt begrüßen, bleibt für uns hinter den
       Erwartungen zurück. Eine monatliche Pauschale von 670 Euro pro Flüchtling
       ist zu wenig. Wir sind einmal wie die Kommunen von mindestens 1.000 Euro
       ausgegangen.
       
       Sehen Sie Möglichkeiten für Nachverhandlungen? 
       
       Das wird schwierig sein. Wir als niedersächsische Grüne werden bis zur
       nächsten Bundesratssitzung am 16. Oktober mit unserem Koalitionspartner,
       der SPD, die Verschärfungen, die mit dem Beschluss kommen werden, noch
       einmal in Frage zu stellen. Aber meine Prognose ist, dass da wenig
       Spielraum ist: wenn die Grünen das Fass noch einmal öffnen, besteht die
       Gefahr, dass CDU/CSU es auch noch einmal machen.
       
       Kosovo, Albanien und Montenegro sollen künftig als sichere Herkunftsländer
       gelten. Müssen die Grünen damit leben? 
       
       Auf dem Gipfel wurde noch einmal deutlich gemacht, dass die Bundeswehr im
       Kosovo den längsten Einsatz ihrer Geschichte hat – auch vor diesem
       Hintergrund ist es schon sehr sehr schwierig für uns.
       
       Flüchtlinge sollen künftig bis zu sechs Monate in den Erstaufnahmelagern
       bleiben, wovon man sich schnellere Entscheidungen über ihre Asylanträge
       verspricht. Ist das realistisch? 
       
       Unsere Erfahrung in den Ländern ist, dass die Verfahren trotz anderer
       Zusagen vom Bund im vergangenen Jahr nicht kürzer wurden. Je nach
       Herkunftsland dauerten sie von fünf bis zu 18 Monaten. Und man muss immer
       bedenken, dass unter den Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen viele
       Kinder und Jugendliche sind.
       
       Einer der Erfolge aus grüner Sicht sind die verbesserten legalen
       Arbeitsmöglichkeiten für Menschen aus dem Westbalkan. Reichen die? 
       
       Wir haben immer gesagt: es muss legale Einreisemöglichkeiten auch für Leute
       geben, die nicht primär wegen Krieg und Verfolgung kommen. Aber auch hier
       hat sich der Bundesinnenminister durchgesetzt: Personen, die zwei Jahre vom
       Asylbewerberleistungsgesetz profitiert haben, sollen keine
       Einreisemöglichkeit haben. Wir wissen, dass viele Menschen gerade aus dem
       Kosovo und Serbien schon einmal in Deutschland waren. Wichtig gewesen wäre
       ein Spurwechsel vor allem für diejenigen, die jetzt hier sind: sie nicht
       erst ausreisen zu lassen, sondern ihnen, wenn sie einen Arbeitsvertrag
       vorlegen, eine Aufenthaltsmöglichkeit zu geben.
       
       Werden die Kröten, die hier geschluckt wurden, zu einer Zerreißprobe für
       die Grünen – ähnlich wie einst der Kosovokrieg?
       
       Wir haben noch keine Stimmen aus den einzelnen Fraktionen, das wird sich
       erst über die nächsten Wochen entwickeln. Wenn es zum Schwur im Bundesrat
       kommt, wird innerhalb der Grünen schon diskutiert werden, was das für
       Auswirkungen in der bündnisgrünen Flüchtlingspolitik hat. Schließlich sagen
       wir alle, dass das weitreichende Eingriffe in das Asylrecht sind.
       
       Hätten Sie sich gewünscht, dass Niedersachsen Nein sagt? 
       
       Bei der letzten Entscheidung zu den sicheren Herkunftsländern hat sich das
       Land enthalten, weil die SPD das mittragen konnte, wir aber nicht. Diese
       Möglichkeit steht auch jetzt im Raum. Zumal unser Koalitionsvertrag eine
       ganz andere Ausrichtung hat, sich unser Ministerpräsident aber bereits sehr
       positiv geäußert hat.
       
       Es ist kein Thema, an dem die rot-grüne Koalition zerbrechen würde? 
       
       Das denke ich nicht. Das eine ist die Bundesratsabstimmung, das andere ist
       Umsetzung in der Praxis und mögliche Spielräume, die wir noch prüfen und
       diskutieren müssen. Wenn man Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen
       belässt und dann noch Wertgutscheine verteilt, verschärft sich die Lage
       zwischen den Flüchtlingsgruppen, außerdem wird eine einzelne Gruppe
       stigmatisiert. Das sind historisch wiederkehrende Momente, wir erleben ein
       Revival der 90er Jahre und bieten die selben Lösungen an.
       
       Inwiefern? 
       
       So wie man jetzt sagt, die Dublin-Verträge sind gescheitert, müsste man
       sagen, auch die Asylgesetzgebung der 90er ist nicht dazu geeignet, die
       heutigen Probleme zu lösen. Wir haben ein Verteilungs- und
       Organisationsproblem, weil unser System die Kommunen finanziell extrem
       belastet und die Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt fernhält.
       
       Bietet der genügend Platz auch für gering Qualifizierte? 
       
       Wir haben in den EU-Beitrittsländern des Westbalkan eine sehr junge
       Bevölkerung und hier fehlen uns junge Auszubildende. Wir hatten in den 90er
       Jahren das gleiche mit den polnischen Zuwanderern: sie kamen seit den 80er
       Jahren als Asylbewerber, obwohl sie in erster Linie Arbeitsmigranten waren
       und mussten abgeschoben werden. Wir hatten bis ins Jahr der polnischen
       EU-Beitritts diese Abschiebungen, heute ist es die größte Einwanderergruppe
       und niemand spricht über sie.
       
       27 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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