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       # taz.de -- Kirchlicher Außenseiter: „Jede gute Predigt verletzt religiöse Gefühle“
       
       > Pastor Ulrich Hentschel geht in den Ruhestand. Eine Begegnung mit einem
       > Kirchenmann, der selten betet und den Streit nicht fürchtet.
       
   IMG Bild: Deckte unangenehme Details in der Geschichte seiner Kirche auf und bekommt trotzdem ein Symposium zum Abschied: Pastor Ulrich Hentschel.
       
       Hamburg taz | Manchmal blieb er allein. Manchmal fand sich kein
       Mitstreiter, kein Gleichgesinnter und kein Verbündeter. Etwa, als er die
       Kirche, in der er am längsten Pastor war, für die Jugendweihe öffnen
       wollte. Für die Konkurrenz also, wie man ihm sofort vorhielt. „Wenn man
       sich seiner Sache gewiss ist, muss man Konkurrenz doch nicht fürchten“,
       sagt der umstrittene Hamburger Pastor Ulrich Hentschel heute und er sagte
       es damals. Doch es war nichts zu machen.
       
       „Mindestens zu 50 Prozent bin ich gescheitert“, sagt er rückblickend.
       Hentschel klingt dabei kein bisschen enttäuscht; überhaupt nicht geknickt.
       Sondern so, als ob das dazugehört, wenn man ein streitbarer Geist war und
       blieb.
       
       Draußen vor Hentschels Büro rauscht der Verkehr vierspurig die Königstraße
       entlang, von Altona nach St. Pauli, von St. Pauli nach Altona. Zuletzt war
       er für den Bereich „Erinnerungskultur“ der Evangelischen Akademie der
       Nordkirche zuständig. Nun endet diese Zeit in wenigen Tagen. Hentschel geht
       mit 65 Jahren in Rente. Die Kirche wird ihm einen Abschiedsgottesdienst
       ausrichten – und, das ist besonders, ein Symposium. Titel der
       Veranstaltung: „Vorwärts – und nicht vergessen! Opposition und
       Institution“. Mit „Institution“ ist die Kirche gemeint.
       
       Als Linker lebe es sich in der Kirche „gut und schwer“, sagt der Pastor. Er
       hat es sich selbst nicht leicht gemacht, die Konfrontation gesucht. Anders
       war Hentschel schon in der Schule. Als einziges evangelisches Kind ging er
       in eine katholische Klasse im emsländischen Haselünne. Ein stramm
       katholisches Stammland. „Da musste man sich überlegen, warum sind wir
       anders?“, sagt er. Sein Vater war selbst Pastor und ein Flüchtling aus
       Schlesien. Seine Mutter Flüchtling aus Magdeburg.
       
       In der Fremde seine Aufgabe zu finden, sei eine linke Haltung, findet
       Hentschel. Und er stellt kurz und knapp fest: „Ich muss mich nicht
       identifizieren mit einem Volk, einem Staat – mit Deutschland. Überhaupt
       nicht!“
       
       Nach dem Abitur ist klar, dass Hentschel den Wehrdienst verweigern wird. Er
       ist 16 Jahre alt, als er sich zum ersten Mal offensiv als Christ gegen die
       Institution Kirche stellt – beim Weihnachtsgottesdienst, den sein Vater
       hält, steht er vor der Kirche und verteilt Flugblätter. Seine eigenen
       Flugblätter, nicht die irgendeiner Organisation. Er protestiert gegen die
       Scheinheiligkeit der Kirche: dass man einmal im Jahr groß feiert, während
       woanders Menschen das Jahr über hungern.
       
       Nach dem Studium taucht er in die linke, christliche Protestwelt ein, die
       nicht nur die Friedensbewegung prägen wird. Er fühlt sich der Kirche trotz
       aller Kritik nahe, wird Vikar, 1977 schließlich Pastor in einer Gemeinde in
       Rellingen. Er ist erfolgreich, ist streitbar, ist links, eckt an. Und er
       wird vier Jahre später suspendiert.
       
       Weniger auf Veranlassung des zuständigen Kirchengemeinderates, sondern auf
       Druck der Kirchenoberen in Kiel, so sieht er das heute. „Ich bin darüber
       krank geworden, ich habe Depressionen bekommen und eine Psychotherapie
       begonnen“, erzählt er ohne zu zögern. Niemand gehe glatt durchs Leben. „Ich
       möchte ja auch Anerkennung, aber ich möchte auch meine Bischöfin
       kritisieren können“, sagt Hentschel. Und ganz selten habe er sich
       gewünscht, auch mal ein bisschen blinder sein zu können.
       
       Nach der Kündigung findet er neue Aufgaben, bewirbt sich aber immer wieder
       in Kirchengemeinden als Pastor. Doch er wird nicht genommen – auch wenn man
       ihm sagt, das Bewerbungsgespräch mit ihm sei das spannendste im ganzen
       Verfahren gewesen. Die Gemeinden sind nicht bereit für einen so streitbaren
       Geistlichen.
       
       Dann klappt es: 1992 wird er Pastor an der St. Johanniskirche in Altona, 18
       Jahre lang. In dieser Zeit wandelt sich die Kirche in eine Kulturkirche –
       weil sie saniert werden muss. Zweieinhalb Millionen D-Mark stehen dafür zur
       Verfügung. Und Hentschel fragt: Ist es richtig, so viel Geld zu
       investieren, damit sich Sonntag für Sonntag 30 Leute gut fühlen? Seine
       Antwort: Die Kirche müsse sich für den Stadtteil öffnen. Heute ist die
       Kulturkirche eine GmbH; kann gemietet werden. „Ich würde sagen, das Konzept
       ist zu 60 Prozent aufgegangen“, sagt Hentschel.
       
       Doch die Kirche ist nur eine seiner Baustellen: Er hilft, die heute sehr
       erfolgreiche kirchliche Einrichtung Fluchtpunkt zu gründen; er ist dabei,
       als die Gruppe behinderter Künstler, die Schlumper, sich in einem Verein
       organisiert und so ihren Weg raus aus der Stiftung Alsterdorf findet. Und
       er ist nicht zuletzt mit dafür verantwortlich, dass es heute die „Neue
       Wohnung“ gibt.
       
       Auch dies eine typische Hentschel-Geschichte: „Im Winter 1993 haben wir
       Container für obdachlose Menschen aufgestellt.“ Dieses Winternotprogramm
       sei gut gelaufen. Nach dem Winter hätten sich Hentschel und seine
       Unterstützer für ihr gutes Werk auf die Schulter geklopft, sagt der Pastor
       – bis ein Mitarbeiter fragte, ob sie die Obdachlosen nun einfach auf die
       Straße werfen wollten. Hentschel suchte eine Stiftung, die seitdem
       Containerplätze und zwei Häuser finanziert – mit rund 100.000 Euro im Jahr.
       
       Im Jahr 2000 verlässt er St. Johannis, wird Studienleiter des Bereichs
       „Erinnerungskultur“ an der evangelischen Akademie. Schon vorher hat er sich
       mit der Geschichte seiner Kirche beschäftigt. Als Hentschel in St. Johannis
       antrat, nahm er sich als erstes das Kriegerdenkmal im Schatten der Kirche
       vor. Inschrift: „Den Gefallenen zum dankbaren Gedächtnis, den Lebenden zur
       Mahnung, den kommenden Geschlechtern zur Nacheiferung.“
       
       „Ich habe denen damals gleich gesagt: Ich kann hier nur Pastor werden, wenn
       dieses Denkmal geändert wird.“ Und er sorgte dafür, dass das Kriegerdenkmal
       mit einem Gegendenkmal konfrontiert wurde. Der Pastor machte sich damit
       nicht nur Freunde.
       
       „Es gab übelste Anfeindungen; richtig faschistoide Ausfälle, das können Sie
       ruhig schreiben“, sagt er wütend. Die Schreiber kamen aus Eppendorf, hatten
       mit Namen unterschrieben, erinnert sich Hentschel. Dem Protest beugen
       wollte er sich nicht. „Das Kriegerdenkmal war dermaßen martialisch, hätte
       da nur ein Findling gelegen, wer weiß, ob ich mich so hineingekniet hätte.“
       
       Hentschel bohrte weiter. Er entdeckte, dass die Altonaer Kirche
       Garnisonskirche war. Dass man hier die Rekruten segnete, auf ihrem Weg zu
       den Schlachtfeldern, und dass der damalige Propst überzeugter Nazi war.
       
       Und er reinszenierte zusammen mit dem Theatermacher Michael Batz eine
       Massenhochzeit, die 1933 in dieser, seiner Kirche stattgefunden hat: 133
       Frauen, die beim Tabakkonzern Reemtsma arbeiteten, wurden mit 133 Männern,
       überwiegend aus Dithmarschen, verheiratet. Die Frauen erhielten eine
       Geldprämie – die Männer deren Arbeitsplätze. „Vor dem Altonaer Rathaus, wo
       die standesamtliche Trauung war, hingen die Flaggen der Nazis, von Reemtsma
       und der Kirche.“ Der Pastor will solche Geschichten erzählen, nichts
       verschweigen.
       
       Hentschel steckt sich eine Zigarette an. Er hatte damit schon aufgehört,
       aber wieder angefangen. „Ich will nicht allen gerecht werden. Jede gute
       Predigt verletzt religiöse Gefühle“, sagt er noch. Und er verzieht leicht
       das Gesicht, um zu zeigen, wie es ihm geht, wenn man ihm sagt: „Oh, heute
       haben Sie aber schön gepredigt!“ Er suche keinen Streit, aber er fürchte
       ihn auch nicht. Er sagt: „Ich bete eher selten, aber wenn – dann muss es
       Gültigkeit haben.“
       
       29 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Keil
       
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