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       # taz.de -- Kommentar Flüchtlingspolitik: Merkels Momentum
       
       > Auf einmal zeigt die Kanzlerin politische Überzeugungen, geht Risiken ein
       > und findet die richtigen Worte. Angela Merkel schreibt gerade Geschichte.
       
   IMG Bild: Läuft bei dir, Angela – nicht mal Sefies mit Geflüchteten wirken peinlich.
       
       Wie oft hat man der deutschen Kanzlerin vorgeworfen, keine Visionen zu
       haben? Wie oft wurde geschrieben, dass sie ihre Politik nicht genügend
       erklärt und vermittelt? Und wie oft wurde ihr unterstellt, die Dinge nur zu
       verwalten, zu zögern und abzuwarten, bis alle Würfel gefallen sind, bevor
       sie selbst Farbe bekennt? „Die Zauder-Künstlerin“ hat der
       Ex-Bild-Journalist Nikolaus Blome seine Merkel-Biografie überschrieben, die
       er vor zwei Jahren veröffentlicht hat. Er wird sie umschreiben müssen.
       
       Mit ihrer generösen Geste, kurzzeitig die Grenzen für die Flüchtlinge aus
       Syrien zu öffnen, die auf dem Bahnhof von Budapest ausharrten, hat die
       deutsche Kanzlerin weit über den Tag hinaus ein Signal gesetzt, die Herzen
       vieler Syrer gewonnen und andere europäische Regierungen moralisch unter
       Druck gesetzt.
       
       Mit ihrem nüchternen „Wir schaffen das“ nahm sie all jenen Skeptikern den
       Wind aus den Segeln, die vor einer „Überforderung“ warnten, und machte all
       jenen Mut, die sich als Helfer selbstlos für Flüchtlinge einsetzten. Und
       mit ihrem Satz „Dann ist das nicht mein Land“ hat sie jetzt klar gemacht,
       dass das keine Frage der politischen Opportunität ist, sondern ihrer festen
       Überzeugung.
       
       Ausgerechnet die konservative deutsche Kanzlerin prescht damit in Europa
       voran, um die aktuelle humanitäre Krise des Kontinents zu lösen, und
       überholt selbst ihre sozialdemokratischen Amtskollegen von links. Mit der
       Ankündigung, Syrer nicht mehr in jene Länder zurück zu schicken, in denen
       sie erstmals den Boden der Europäischen Union betreten haben, hat
       Deutschland das Dublin-System ausgesetzt, dass ohnehin nicht mehr
       funktioniert.
       
       Doch während sich andere Europäer deshalb immer mehr einmauern, allen voran
       die Ungarn und Dänen, macht Merkel Druck, neue Grundlagen für ein
       solidarisches und liberales Europa zu legen, das Flüchtlingen prinzipiell
       offen steht.
       
       Das ist nicht wenig, und das Risiko nicht gering. Doch mögen die
       Bedenkenträger auch immer lauter knurren, in den Medien oder in ihrer
       eigenen Partei, von „Abenteuern“ schwafeln wie der Spiegel oder sich um die
       Stammtische sorgen wie Horst Seehofer, sie lässt sich davon bisher nicht
       beirren.
       
       ## Eine breite Mehrheit macht mutiger
       
       Klar: Mit einer breiten Parlamentsmehrheit im Rücken kann sich Merkel im
       Herbst ihrer Amtszeit den Mut leisten, auch Teile ihrer Wählerbasis zu
       vergrätzen, und als dienstälteste Regierungschefin Europas hat ihre Stimme
       zwangsläufig Gewicht. Als wirtschaftsstärkste Nation Europas kann
       Deutschland außerdem im Prinzip nicht nur eine, sondern auch zwei Millionen
       Flüchtlinge verkraften. Es hat auch knapp zweieinhalb Millionen
       „Aussiedler“ aus Osteuropa vergleichsweise reibungslos zu integrieren
       vermocht.
       
       Dennoch wird diese Entwicklung Deutschland langfristig verändern. Und die
       Flüchtlingsfrage wird Merkels Kanzlerschaft prägen, wie es die
       Wiedervereinigung bei Helmut Kohl und die Agenda 2010 bei Gerhard Schröder
       getan hat.
       
       Unter Merkel hat sich die Union einst von der Illusion verabschiedet, dass
       Deutschland kein Einwanderungsland ist. Jetzt könnte sie zeigen, dass eine
       andere Flüchtlingspolitik möglich ist, in Deutschland und vielleicht sogar
       in Europa. Angela Merkel schreibt gerade Geschichte. Sie findet die
       richtigen Worte. Und sie hält Kurs. Das ist bemerkenswert.
       
       16 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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