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       # taz.de -- Premiere beim Filmfest: Kommt ein Alien nach Hamburg
       
       > Blick auf einsame Arbeitnehmer, Lavaströme im Hochofen und planschende
       > Seniorinnen: Die musikalische Doku „Stadt“ hat Premiere beim Filmfest
       > Hamburg.
       
   IMG Bild: Schöne neue Welt in Hamburg entdeckt: Aber die Arbeiter vereinsamen zusehends
       
       HAMBURG taz | Wie würde ein Außerirdischer das heutige Hamburg sehen und
       hören? Diese Perspektive versuchen der Regisseur Timo Großpietsch und der
       Komponist Vladyslav Sendecki in ihrem dokumentarischen Experimentalfilm
       „Stadt“ einzunehmen. Ihre Inspiration holen sie dabei auch aus der
       Vergangenheit.
       
       Das Vorbild für den Film, der jetzt beim [1][Hamburger Filmfest] Premiere
       feiert, ist eindeutig Walther Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie einer
       Großstadt“ aus dem Jahr 1927. Der stilbildende Film zeigt einen Tag in der
       Metropole Berlin und thematisierte die damals moderne Technik und den
       hektischen Lebensrhythmus. „Berlin...“ war im Stil der zeitgenössischen
       Neuen Sachlichkeit konzipiert – und einen sachlich-distanzierten Blick
       macht sich auch Großpietsch zu eigen.
       
       ## Klinischer Blick
       
       Auch „Stadt“, eine Produktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR), beginnt
       mit einer Zugfahrt in die Stadt hinein und folgt der 24-Stunden-Zeitlinie
       eines Tages. Anders als der Regisseur Thomas Schadt mit seiner
       Ruttmann-Hommage im Jahr 2002 ist Timo Großpietsch nun aber so klug, mit
       einer moderneren Bildsprache zu arbeiten. Er selbst spricht dabei von einem
       „klinischen Blick, mit einer Werbeästhetik, die clean ist“.
       
       Und tatsächlich ist sein Film sehr sauber. Selbst das von der Alkoholsucht
       gezeichnete Gesicht eines Obdachlosen wird so „schön“ fotografiert, dass es
       nicht wirklich wehtut. Auch die Läufer beim Hamburger Marathon schwitzen
       bei ihm nicht, das „dreckigste“ Bild ist noch die Nahaufnahme eines Kindes,
       das sich beim Essen das Gesicht verschmiert hat.
       
       ## Blick von oben
       
       Dazu passt, dass der Dokumentarfilmer Großpietsch (“Der Schneekönig“) sich
       auch von „Google Earth“ inspirieren ließ: Er studierte Satellitenbilder
       seiner Heimatstadt, suchte die interessantesten und optisch reizvollsten
       aus und machte dann aus einem Helikopter heraus eigene Luftaufnahmen. Das
       ähnelt den beliebten „Von oben“-Dokumentationen, denn beide operieren mit
       der gleichen speziellen Kameratechnik.
       
       Großpietsch sagt, er selbst habe oft „mit den großen staunenden Augen eines
       kleinen Jungen“ auf die Stadt geblickt. Nun suchte er möglichst
       überraschende Drehorte aus, auch solche, die für Außenstehende nicht zu
       erreichen oder auch bloß zu sehen sind: Er filmte die glühenden
       Metallströme in den Hochöfen einer Kupferhütte oder stieg 28 Meter tief in
       die Kanalisation, um Bilder aus der Unterwelt der Stadt zu finden. Ein
       wenig erliegt er dabei der Exotik dieser Orte: Statt in der
       Mönckebergstraße oder am Hauptbahnhof stellte er lieber auf dem Flughafen
       die Kamera auf, direkt unter abhebenden Flugzeugen.
       
       ## Überflüssige Menschen
       
       In gleich zwei längeren Sequenzen zeigt er das vollautomatische
       Versorgungssystem unter dem Universitätsklinikum Eppendorf, bei dem
       computergesteuerte Lastenkarren durch ein riesiges Tunnelsystem gelenkt
       werden. Auch bei den Aufnahmen vom Containerterminal im Hafen sieht man
       keine Menschen: Die werden in den Arbeitsprozessen immer überflüssiger –
       und das ist eines der Leitmotive des Films.
       
       Oft zeigt Großpietsch einzelne Menschen an ihren Arbeitsplätzen, verloren
       und einsam. Den gleichen distanzierten Blick wie auf einen Koch in einer
       Großküche oder einen Tagesschau-Sprecher, der sich vorbereitet, richtet er
       aber auch auf Hamburgs Bürgermeister, wenn der durch die Gänge des
       Rathauses eilt. All die Bilder von isoliert arbeitenden und – vielleicht –
       lebenden Menschen bescheren dem Film einen melancholischen Grundton.
       Großspieß spricht von einer „schönen neuen Welt“, die er da in Hamburg
       entdeckt habe.
       
       ## Von planschenden Seniorinnen
       
       Der subjektive Blick eines guten Fotografen macht eine der Qualitäten des
       Films aus: Anderthalb Jahre lang hat Großpietsch an 50 Drehorten gefilmt,
       aber die vielleicht noch schwierigere Aufgabe bestand darin, dieser Masse
       an Bildern und Impressionen im Schnitt eine Form zu geben.
       
       Hier arbeitet er gerne mit Parallelmontagen, bei denen er auf möglichst
       wirkungsvolle Kontraste setzt: Von einem Polizisten bei Schießübungen
       schneidet er zu planschenden Seniorinnen in einem Schwimmbad, von der
       Opernaufführung ins Eishockeystadion, von einer medizinischen Operation
       direkt auf eine Hand, die eine Zigarette dreht.
       
       Mit Regie, Buch, Kamera und Schnitt hat Großpietsch mit „Stadt“ einen
       klassischen Autorenfilm gemacht. Für die Tonspur aber hat er sich einen
       Partner gesucht, dem er eine fast ebenso große kreative Freiheit zugestand:
       Vladislav Sendecki, Komponist und Pianist der NDR-Bigband, folgt in seiner
       Filmmusik ebenfalls der Grundidee: Alien kommt in eine völlig fremde Welt.
       Deswegen klingt nichts so, wie man es kennt. Originaltöne werden nur
       sparsam eingesetzt, es wird verfremdet, Sprache kommt als Geräusch daher.
       
       ## Jedes Geräusch ist Musik
       
       Für Sendecki ist, frei nach John Cage, „jedes Geräusch Musik“. So arbeitet
       er einerseits mit der NDR-Bigband als einem virtuosen und vielseitigen
       Klangkörper, dessen gesamte Palette zwischen orchestralem Einsatz,
       Schlagzeugsolo und einem intimen Pianotrio ausgeschöpft werden. Aber etwa
       die Hälfte des Soundtracks hat er auch im Studio mit deformierten
       Originaltönen und elektronischen Klängen produziert.
       
       Während Großpietsch, der sich selbst als Purist bezeichnet, bei den Bildern
       ganz auf Effekte verzichtet, ist kein einziger Ton des Films unbearbeitet.
       Durch Sendeckis Musik wird das Hamburg dieses Films noch fremder – und noch
       schöner.
       
       „Stadt“-Premiere mit der NDR- Bigband: 3. Oktober, 15 Uhr,
       Rolf-Liebermann-Studio des NDR, Oberstraße 120, Hamburg. Das ganze Programm
       des Filmfestes Hamburg finden Sie [2][hier.]
       
       30 Sep 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.filmfesthamburg.de
   DIR [2] http://www.filmfesthamburg.de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Hippen
       
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