URI: 
       # taz.de -- Porträt eines Ghetto-Überlebenden: Wenn du kämpfst, geht es dir gut
       
       > Peter Finkelgruen wurde 1942 im Ghetto von Shanghai geboren. Er fürchtet,
       > dass Europa wieder scheitert in der Flüchtlingspolitik.
       
   IMG Bild: Peter Finkelgruen in seiner Kölner Wohnung.
       
       Köln taz | „Ich habe noch keinen Beitrag so schnell geschrieben“, sagt
       Peter Finkelgruen, Buchautor und früher Rundfunk-Journalist. Aber dieses
       Mal schreibt er einen Leserbrief. Es ist der 3. September 2015, der Tag, an
       dem das Bild des syrischen Jungen Aylan Kurdi um die Welt ging, ertrunken
       und angespült am Strand des türkischen Badeorts Bodrum.
       
       Es ist an diesem 3. September auch auf den Tag genau 70 Jahre her, dass das
       jüdische Ghetto Hongkou im japanisch besetzten Schanghai von amerikanischen
       Streitkräften befreit wurde. Peter Finkelgruen ist dort 1942 geboren, seine
       Eltern hofften dort auf ein sicheres Leben.
       
       Er sieht im Fernsehen die Bilder der Flüchtlinge auf dem Bahnhof in
       Budapest, der Gestrandeten an den europäischen Küsten, er erinnert sich an
       das Gedränge im Hafen von Schanghai, Ende 1946, kurz vor der Abfahrt nach
       Europa. „Fremde Laute, fremde Gesichter, existenzielle Unsicherheit,
       endlose Angst.“
       
       Peter Finkelgruen sitzt im halbdunklen Wohnzimmer seiner Kölner Wohnung,
       ein Genossenschaftsbau der 1930er Jahre, es ist später Nachmittag, draußen
       scheint die warme Septembersonne. Er kramt Dokumente, Fotos hervor, breitet
       sie auf dem langen Wohnzimmertisch aus.
       
       ## Ghettopass mit japanischen Schriftzeichen
       
       Der Ghettopass seines Vaters, einmal mit japanischen, einmal mit
       chinesischen Schriftzeichen. Er selbst als kleiner Junge im Kindergarten in
       Schanghai. Ein ihm gewidmetes Gedicht von Erich Fried. Finkelgruen ist gut
       vorbereitet auf das Gespräch, er hat zwei Bücher geschrieben, in denen er
       seiner außergewöhnlichen Familiengeschichte nachgegangen ist. Die Situation
       der Flüchtlinge an den Grenzen Europas treibt ihn um.
       
       „Ängste, die bei Kindern in diesem Alter entstehen, die werden sie ihr
       Leben lang nicht mehr loslassen“, sagt er. Peter Finkelgruen haben sie bis
       heute nicht losgelassen, er hat gelernt, damit „offensiv umzugehen“. Kleine
       Begebenheiten reichten, um alte Ängste auszulösen. Retraumatisierung nennt
       er das.
       
       ## Bloß nicht auffallen, nicht anecken
       
       Welcher Art die Ängste waren, die ihn immer begleitet haben? „Zu scheitern,
       Schwierigkeiten nicht zu bewältigen.“ Ständiger Erwartungsdruck. Ja nicht
       auffallen, nicht anecken, alles richtig machen. Dagegen stand die Haltung
       seiner Großmutter Anna: „Du musst lernen zu überleben.“
       
       Anna Bartlová ist der zentrale Mensch seines jungen Lebens. Eine starke,
       aber auch harte Frau. Sie hat ihn großgezogen: Peters Vater Hans starb
       bereits im Schanghaier Ghetto, die Mutter Ernestine bald nach der Rückkehr
       nach Prag. 1951 emigriert die alte Dame mit ihrem Enkel nach Israel. 1959
       begleitet sie ihn zum Studium nach Deutschland.
       
       „Ihre Muttersprache war Deutsch“, sagt Peter Finkelgruen – in der
       Tschechoslowakei und in Israel eckte die gebürtige Siebenbürger Sächsin, im
       übrigen Protestantin, damit an. Weil Anna Bartlová ihren Lebensgefährten
       Martin Finkelgruen, den Großvater von Peter Finkelgruen, in ihrer Prager
       Wohnung versteckt hielt, bis sie 1942 denunziert wurden, kam sie ins
       Konzentrationslager. Sie überlebte; Martin Finkelgruen wurde am Tag seines
       Eintreffens in der Kleinen Festung Theresienstadt von dem SS-Mann Anton
       Malloth erschlagen.
       
       ## Gegen den Mörder seines Großvaters
       
       Den Namen des Mörders seines Großvaters hat Peter Finkelgruen erst 1989
       erfahren, zufällig, durch eine Freundin seiner Großmutter. Elf Jahre lang
       ringt er mit der deutschen Justiz, geht in Archive, treibt Zeugen auf,
       prozessiert auf eigene Kosten, damit Malloth, der lange unbehelligt in
       Italien gelebt hatte, verurteilt werden kann.
       
       „Es stimmt, wir haben einen Rechtsstaat“, resümiert Finkelgruen diese Zeit,
       „aber der normale Bürger hat gar nicht die Mittel, den Rechtsstaat
       durchzusetzen. Ich musste all meine Fähigkeiten und Kontakte als Journalist
       einsetzen, um den Fall ein Jahrzehnt lang am Köcheln zu halten.“ 2001 wird
       Malloth in einer anderen Sache verurteilt, 2002 stirbt er.
       
       Erst damals, sagt Peter Finkelgruen, habe er angefangen, sich wirklich mit
       seiner Herkunft zu beschäftigen. „Ich habe immer gedacht, ich bin zweite
       Generation, Kind von NS-Verfolgten. Irgendwann habe ich verstanden, dass
       ich auch erste bin. Ich bin im Ghetto von Schanghai geboren. Die Nürnberger
       Gesetze waren auf mich gemünzt.“
       
       ## Der Onkel war bei der SS
       
       Peter Finkelgruen erlebt das Schweigen über die NS-Zeit in der
       bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft – und er erfährt es in der eigenen
       Familie. Über ihre Zeit in den Lagern – Ravensbrück, Majdanek, Auschwitz –
       hat Großmutter Anna „viel erzählt, wenn auch nicht alles“.
       
       Erst kurz vor ihrem Tod gesteht sie ihm, dass sie noch einen Sohn hatte,
       den sie zu Verwandten gab. Peters Onkel wurde 1945 als SS-Mann von
       Tschechen im Sudetenland erschossen. „Ich habe lange daran gekaut. Aber wem
       hätte sie das in Prag oder Haifa erzählen sollen?“
       
       Peter Finkelgruen ist nicht nur ein junger Mann mit Ängsten, sondern ein
       neugieriger, offener Mensch. Dreimal fängt er nach Schanghai neu an: in
       Prag, in Israel, in der Bundesrepublik. Er studiert in Freiburg, Bonn,
       Köln. Geschichte und Politikwissenschaft, später arbeitet er als Übersetzer
       und Redakteur im englischen Dienst der Deutschen Welle, geht in den 1980er
       Jahren als Korrespondent nach Israel. Wann immer es ihm möglich ist, wählt
       er statt Flugzeug das Schiff, reist über Piräus nach Haifa und umgekehrt.
       
       ## Überlebenswille der Flüchtlinge beeindruckt ihn
       
       Er mag Schiffe, sie waren immer mit einem „Ziel verbunden, das etwas
       Besseres versprach“. Damals, von Schanghai nach Wladiwostok, später von
       Venedig nach Israel. Schiffe bedeuten für ihn Zuflucht und Aufbruch. Zur
       Angst hat es bei Peter Finkelgruen immer auch ein optimistisches
       Gegengewicht gegeben.
       
       Das kommt ihm auch bei den Flüchtlingen heute in den Sinn, die sich zu Fuß
       aufmachen, wochenlang ins Ungewisse laufen, große Gefahren auf sich nehmen.
       Dieser Überlebenswille, das Durchhaltevermögen – neben all ihrer
       Verzweiflung sieht er auch das Kämpferische, neben der Angst die Hoffnung.
       
       „Es ist eine Vergewisserung, dass man sich selbst nicht aufgibt.“ Das ist
       ein Mechanismus, der auch ihn geprägt hat. „Ich musste mir alles selbst
       aneignen, selbst Deutsch. Ich bin Autodidakt. Das ist mein Lebensgefühl.“
       Ein Freund hat mal über ihn gesagt, wenn er nicht kämpft, geht es ihm nicht
       gut.
       
       ## Sein Leben verfilmt, seine Geschichte ein Roman
       
       Peter Finkelgruen hat zwei autobiografische Bücher geschrieben, außerdem
       mit seiner Frau Gertrud Seehaus ein Kinderbuch verfasst. Aber er ist auch
       selbst mit seiner Lebensgeschichte Gegenstand von Literatur und Film
       geworden: Joshua Sobols Theaterstück „Schöner Toni“ basiert auf seinen
       Recherchen zum SS-Mann Malloth, und Ursula Krechels Roman „Shanghai fern
       von wo“ erzählt „die Geschichte meiner Eltern“.
       
       Ist das nicht komisch, sich auf diese Weise selbst zu begegnen? Er zuckt
       mit den Achseln. So ist das eben, wenn sich Autoren der Lebensgeschichte
       anderer bemächtigen. Finkelgruen wirkt gelassen. Er war bestimmt kein
       zorniger junger Mann, mehr ein engagierter.
       
       In den 1970er Jahren setzt er sich erfolgreich für die Rehabilitierung der
       Kölner Widerstandsgruppe der Edelweißpiraten ein und ist bei der FDP aktiv
       – „als sie noch einen linken Flügel hatte“. Doch gab es auch in der FDP
       alte Nazis, weshalb er die Partei Ende der 1970er wieder verlässt.
       
       Seit 2011 ist Finkelgruen Mitglied der Piratenpartei. Er macht Lesungen in
       Schulen, hat zwei unveröffentlichte Romane in der Schublade seines
       Schreibtischs mit den drei Monitoren, und diesen Herbst fährt er mit seinem
       Enkel nach Schanghai, wie er mit dem Dokumentarfilmer Dietrich Schubert
       schon einmal in den 1990er Jahren auf den Spuren seiner Geschichte dorthin
       gereist ist.
       
       ## Flüchtlinge wecken die Erinnerung
       
       Vieles aus seiner Vergangenheit kommt in diesen Tagen wieder hoch. Peter
       Finkelgruen sorgt sich, dass Europa wieder scheitern könnte in der
       Flüchtlingspolitik, wie bei der internationalen Flüchtlingskonferenz von
       1938 in Évian. Damals ging es um die Auswanderung deutscher und
       österreichischer Juden, welche Staaten wie viele aufzunehmen bereit sind.
       Die Konferenz scheiterte.
       
       Noch eine „ungute Parallele“ sieht Finkelgruen. „Den Flüchtlingswellen
       folgte ein großer Krieg. Wir haben im Moment eine ähnliche Gefahr. Da ist
       die Ukraine, und jetzt will Russland auch noch in Syrien intervenieren. Und
       die Sache mit dem Iran ist auch noch lange nicht gegessen. Im Nahen Osten
       droht eine große kriegerische Auseinandersetzung.“ Ein Gutes könnte das
       immerhin haben, scherzt er, dass Israelis und Palästinenser näher
       zusammenrücken – gegen einen gemeinsamen Feind, sei es der IS oder der
       Iran.
       
       Peter Finkelgruen ist nicht alarmistisch. Der Einsatz der vielen
       freiwilligen Helfer und Merkels Öffnung der Grenzen beeindruckten ihn. „Das
       geht weit übers Kerzenhalten hinaus.“ Aber es kommt nicht nur auf die
       Deutschen, es kommt auf alle Europäer an. „Es gibt einen Rechtsruck und
       einen nationalen Egoismus der Völker, die gar nicht merken, wie sich das
       alles zuspitzt.“
       
       ## Baum zu Ehren des ermordeten Großvaters
       
       Der Name Finkelgruen ist ein eher seltener Name. Finkeln kommt aus dem
       Jiddischen und bedeutet Funkeln. Die Familienbande Peter Finkelgruens sind
       über den Erdball verteilt. Er war zweimal verheiratet, hat zwei Kinder,
       zwei Enkel. Einen Vetter, der bei der SS war, einen Vetter und eine Kusine
       in Israel sowie einen ultraorthodoxen Vetter in den USA – ein Nachfahr des
       Mannes, dessen Ölbilder über seinem Schreibtisch hängen. Als der Maler
       David Finkelgreen starb, widmete ihm die New York Times einen Artikel, weil
       er im Zweiten Weltkrieg für verwundete Soldaten der Alliierten kunstvoll
       die Bemalung von Glasaugen praktizierte.
       
       Wenn Peter Finkelgruen ausgeht, zieht er einen Parka an und setzt einen
       breitkrempigen Lederhut auf. Direkt vor dem Haus auf dem Kölner Sülzgürtel
       hat ihm der Bezirk Lindenthal zum 70. Geburtstag einen kleine Linde
       gepflanzt. Auf der Plakette steht „In Erinnerung an seinen im Kleinen Lager
       Theresienstadt ermordeten Großvater Martin Finkelgruen“. Andere Ehrungen
       könnten ihm gestohlen bleiben, meint er, „aber den Baum finde ich gut.“
       
       21 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Seifert
       
       ## TAGS
       
   DIR Minderjährige Geflüchtete
   DIR Shanghai
   DIR NS-Opfer
   DIR Juden
   DIR Flüchtlinge
   DIR Judenverfolgung
   DIR Essen
   DIR Schwerpunkt Syrien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR EMtaz: Die Konferenz von Evian: Finsteres Ende der Belle Époque
       
       In der Stadt, wo nun das DFB-Team residiert, ging es einst um die Rettung
       deutscher und österreichischer Juden. Das Ergebnis war desaströs.
       
   DIR Flüchtlinge vernetzen sich: „Zeit, etwas zu verändern“
       
       An diesem Wochenende wollen sich 1.000 Geflüchtete auf Kampnagel treffen,
       um ihren gemeinsamen Kampf für Menschenrechte zu organisieren.
       
   DIR NS-Geschichte: Die späte Ehre für Ida Jauch
       
       In einem Rias-Sendesaal ehrt die Gedenkstätte Jad Vaschem 71 Jahre nach
       ihrem Tod die Frau, der der spätere Entertainer Hans Rosenthal sein Leben
       verdankte.
       
   DIR Restaurant-Rabatt in Israel: Essen für die Völkerverständigung
       
       Ein Hummus-Restaurant in Israel gibt Juden und Arabern, die gemeinsam
       essen, 50 Prozent Rabatt. Die Aktion ist ein voller Erfolg.
       
   DIR Kriegseinsätze in Syrien: Russland und USA reden
       
       Die Türkei bestellt wegen des Syrienkrieges die Botschafter der Großmächte
       ein. Die setzen derweil Gespräche fort, um eine Konfrontation zu vermeiden.
       
   DIR Ausstellung über jüdische Flüchtlinge in Shanghai: Rettender Hafen der kleinen Leute
       
       Eine Hamburger Ausstellung widmet sich den 20.000 Juden, die vor der
       Verfolgung nach Shanghai flohen - und ihrer Dankbarkeit gegenüber einer
       fremd gebliebenen Stadt.
       
   DIR Jeany Chen über jüdische Flüchtlinge in Shanghai: "Große Hilfsbereitschaft"
       
       Rund 20.000 europäische jüdische Flüchtlinge kamen während des Zweiten
       Weltkriegs nach Shanghai. Das besetzte China war arm, die Stimmung sehr
       fragil.
       
   DIR Montagsinterview Sonja Mühlberger: "Wir in Asien wurden vergessen"
       
       Rund 18.000 Juden fanden nach der Reichspogromnacht Zuflucht in Shanghai.
       Nur etwa 500 von ihnen kamen zurück. Für die damals achtjährige Sonja
       Mühlberger, geborene Krips, war Berlin sogar Neuland.