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       # taz.de -- taz-Serie Damals bei uns daheim: Diese Scheidungskinder
       
       > Mit Kindern, deren Eltern nicht mehr zusammen waren, spielte man nicht.
       > Da hatte meine Stiefmutter Recht. Gut, dass sie mir das früh beibrachte.
       
   IMG Bild: Scheidungskinder wurden damals mit ihrem Spielzeug alleine gelassen.
       
       Als Stiefmutter zufällig aus dem Fenster blickte und mich mit Hans-Günther
       spielen sah, schoss sie wie ein Blitz mit Dauerwelle aus dem Haus, packte
       den Jungen hart am Arm und beugte sich tief zu ihm herunter, um ihm direkt
       ins Gesicht zu schreien: „Verschwinde! Und wenn ich dich noch einmal in der
       Nähe von Ulrich-Dieter erwische, dann zieh ich dir bei lebendigem Leib die
       Haut ab!“
       
       Hans-Günther rannte folgerichtig nach Hause und kam nie wieder. Stiefmutter
       veranschaulichte mir mithilfe eines saftigen Backpfeifensalats, warum ich
       keinesfalls mit Scheidungskindern spielen durfte: Die moralische Verrottung
       ihrer Stiefeltern hätte sie längst angesteckt und würde bei Kontakt auch
       mich unweigerlich verderben.
       
       „Der arme Hans-Günther“, seufzte Stiefmutter. Eine große, grüne
       Krokodilsträne rollte aus ihrem linken Auge und klatschte zu Boden, wo sie
       in viele kleinere Tränen zerplatzte. „Mit solchen Eltern wird er bestimmt
       bald sterben.“ Bei aller notwendigen Härte konnte sie durchaus Mitgefühl
       zeigen, wenn nicht gar empfinden.
       
       Aber sie hatte ja recht. Das sah ich ein. Im Stiefkindergarten saßen die
       Scheidungskinder immer in der letzten Bank und wurden oft geschlagen. Um
       sie zu demütigen, hatte man ihnen Kuhglocken um den Hals gehängt oder
       Eselsmützen aufgesetzt. Sie weinten die ganze Zeit, und ihre Anziehsachen
       waren aus Holz oder Papier. Die graue Schlackwurst auf ihren Pausenbroten
       wimmelte vor Maden. Alle zwei Wochen, so mein Stiefvater, wurden die
       Scheidungskinder von ihren Stiefvätern abgeholt, um ihnen den ganzen Tag in
       einer finsteren Spelunke beim Biertrinken zuzusehen, anstatt an die
       „früsche Luft“ zu gehen. Der Staat war offenbar überfordert.
       
       Die „Selbstreinigung des Volkskörpers“, die Stiefvater sich nun erhofft
       hätte, scheiterte an der zur Liberalität verklärten, egoistischen
       Gleichgültigkeit der modernen Gesellschaft und am Verbot der Lynchjustiz.
       Solche Manierismen führten, so Stiefvater weiter, dazu, dass bald „Hippies,
       Neger, Schwule und Sozialdemokraten“ regierten. Und dann hätte der Russe
       leichtes Spiel.
       
       ## Hat der liebe Gott das gewollt?
       
       Wer heiratete, blieb jedenfalls zusammen bis zum Tod, der deshalb oft für
       beide eine unermessliche Erlösung war. Das habe, sagten die Stiefeltern,
       „der liebe Gott so bestimmt“. Also, wenn das der liebe Gott war, der
       bestimmt hatte, dass sich Stiefmutter und Stiefvater wochenlang anschrien,
       bis die Vögel wie Steine tot vom Himmel fielen, wollte ich dem bösen Gott
       aber nicht im Dunkeln begegnen. Der bewarf die Leute dann wahrscheinlich
       mit frischer Kacke oder so.
       
       Heute bin ich meinen Stiefeltern natürlich sehr dankbar, dass ich selbst
       nicht zum Scheidungskind wurde. Im Gegensatz zu diesen ganzen zerrütteten
       Existenzen führe ich ein erfülltes Leben in Harmonie und Einklang mit mir
       selber: Zufrieden trinke ich jeden Abend allein zu Hause meinen Alkohol,
       während ich zu Weltkriegsdokus auf Phoenix masturbiere. Einmal bin ich
       dabei an einem Abend ganze 13 Mal gekommen. Als Scheidungskind hätte ich
       das wohl kaum geschafft.
       
       4 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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