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       # taz.de -- Weiterreise nach Schweden: „Keiner soll zurückbleiben“
       
       > Mehr als 200.000 Euro haben Ehrenamtliche für Fährtickets von Travemünde
       > nach Schweden ausgegeben. Aber die freiwillige Fluchthilfe hat Grenzen.
       
   IMG Bild: Wollen mit der Fähre nach Schweden: Flüchtlinge in Lübeck.
       
       taz: Herr Kleine, warum kaufen Sie Flüchtlingen Fährtickets nach Schweden? 
       
       Christoph Kleine: Damit niemand am Terminal in Lübeck-Travemünde strandet.
       Wenn wir Unterstützer die Tickets kollektiv buchen, kriegen die Leute auch
       einen besseren Preis. Das politische Statement dahinter ist, dass es ein
       Recht auf Bewegungsfreiheit gibt – nicht nur für EU-Bürger. Wir wollen den
       Menschen helfen, Grenzen zu überwinden.
       
       Wer ist wir? 
       
       Wir sind die Helfer im selbstverwalteten Zentrum Alternative auf der
       Wallhalbinsel „Walli“, ein breiter Querschnitt der Gesellschaft. Hier hilft
       nicht nur die Szene, die sich sowieso in diesem Haus bewegt hat, sondern
       ganz unterschiedliche Menschen erklären sich mit den Geflüchteten
       solidarisch. Das ist unglaublich bereichernd.
       
       Wäre es nicht die Aufgabe des Staates oder der Stadt Lübeck, sich um die
       Weiterreise der Flüchtlinge zu kümmern? 
       
       Das ist eine schwierige Frage. Natürlich will ich Stadt und Staat nicht aus
       der Verantwortung entlassen. Sie müssen die Leute vernünftig versorgen.
       Aber realistisch gesehen halten sich die Leute hier ja nicht an Recht und
       Gesetz. Die Geflüchteten müssten sich registrieren lassen. Das machen sie
       aber nicht, weil sie nach Schweden wollen. Es hat deshalb keinen Sinn, auf
       einem prinzipiellen Standpunkt zu beharren und zu sagen, wer die Hilfe
       eigentlich leisten sollte. Zumal das Überwinden von Grenzen und das
       Nicht-Beachten des Dublin-Abkommens keine eigentlichen Aufgaben staatlicher
       Stellen sind.
       
       Wie viel Verantwortung sollten Helfer dem Staat abnehmen? 
       
       Die Grenze ist für uns die Flüchtlingsunterbringung. Es ist in der Tat eine
       staatliche Aufgabe, die Geflüchteten anständig zu versorgen. Wenn wir aber
       darüber sprechen, welche Aufgaben der Staat übernehmen soll, müssen wir
       auch darüber reden, was er lassen soll.
       
       Und das wäre? 
       
       Diese ganzen Schraubereien am Asylrecht und die Versuche, die Leute wieder
       in Kontingente einzuteilen und irgendwo durch die Gegend zu schieben. Es
       ist absurd zu denken, man könnte jetzt mit Repressionen auf diese Bewegung
       reagieren.
       
       Wie sind Sie dazu gekommen, auf der Walli zu helfen?Ich habe einen Anruf
       von Helfern aus Hamburg bekommen. Da saßen die Geflüchteten schon im Zug
       nach Lübeck, wussten aber nicht, wie sie danach Richtung Schweden
       weiterkommen sollten. Was macht man da? Wir haben hier ein Haus, haben die
       Tür aufgemacht und dann ging es halt los.
       
       Wann ging es los? 
       
       In Lübeck wurden am 8. September ungefähr 200 Leute von der Bundespolizei
       aus dem Zug in Richtung Kopenhagen geholt. Die waren da auf dem Bahnsteig
       und mussten sich selbst für ihre Weiterreise stark machen. Wir haben sie
       unterstützt. Einige Aktivisten sind sogar mit nach Dänemark gefahren.
       Hinter der Grenze wurden die Geflüchteten wieder fast einen Tag lang
       festgehalten, bis weiter reisen durften. Damit hat es angefangen. Und am
       nächsten Tag standen einfach wieder Leute vor der Tür, die nach Schweden
       wollten und es ging weiter. Wie unterstützen Sie die Flüchtlinge?
       
       Wir haben Dolmetscher und Helfer, die zum Lübecker Bahnhof gehen und die
       Leute in Empfang nehmen. Wenn die Geflüchteten hier ankommen, wird das so
       genannte Booking gemacht. Es wird geguckt, wann ist die nächste
       Fährabfahrt. Dann gibt es eine warme Mahlzeit, einen Tee und die
       Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Wenn die Menschen über Nacht bleiben,
       bekommen sie ein Bett. Für Familien gibt es spezielle Familienräume. Wir
       organisieren feste Schuhe und warme Jacken, Ärzte und andere medizinische
       Fachkräfte kümmern sich ehrenamtlich um die Leute. Dann begleiten wir die
       Menschen zur Fähre. Wie viele Flüchtlinge kommen pro Tag auf der Walli an?
       
       Das ist unterschiedlich. Meistens zwischen 200 und 400 Menschen.
       
       In welcher Verfassung sind die Menschen?Manchen merkt man die Erschöpfung
       und die lange Reise deutlich an. Andere haben gesundheitliche Probleme, wie
       Erkältungen oder wund gelaufene Füße. Die Wege, die die Menschen hinter
       sich haben, sind sehr unterschiedlich. Im Schnitt sind sie einen Monat
       unterwegs gewesen. Es ist aber meistens eine gewisse Vorfreude zu spüren,
       weil sie jetzt ihre letzte Etappe vor sich haben.
       
       Bekommen Sie Unterstützung von der Stadt Lübeck? 
       
       Der Lübecker Stadtverkehr stellt den Bus, mit dem wir die 15 Kilometer von
       unserem Zentrum zum Fährhafen fahren. Die Stadt hat uns ein paar Dixi-Klos
       und ein zusätzliches Gebäude zur Verfügung gestellt. Da ist jetzt ein
       Ruheraum für wartende Leute drin. Was wir aber eigentlich hinkriegen müssen
       ist der normale Alltag im Zentrum. Da treffen sich normalerweise Gruppen
       oder es finden Konzerte statt. Im Moment ist das komplett lahm gelegt. Der
       Konzertsaal ist zum Schlafsaal geworden und in den Kneipen werden die
       Menschen jetzt verpflegt. Wir brauchen deshalb mehr Platz. Auf dem Gelände
       steht noch ein Gebäude von der Stadt leer. Das brauchen wir eigentlich
       auch. Aber die Stadt spielt auf Zeit.
       
       Wie geht es denn den Helfern in Lübeck? 
       
       Es ist für uns alle eine ziemlich große Anspannung. Seit vier Wochen
       herrscht hier Ausnahmezustand. Gleichzeitig gibt einem die Arbeit total
       viel. Wir haben einen unglaublichen Respekt vor den Geflüchteten, was sie
       für einen Weg hinter sich haben und was sie für Grenzen überwunden haben.
       Sie haben riesige Veränderung in Europa bewirkt. Wir hoffen, dass die
       Politik diese geöffneten Grenzen nie wieder schließt.
       
       Aber sind nicht auch die Helfer nach vier Wochen Ausnahmezustand erschöpft? 
       
       Es geht. Wir haben Schichtpläne und es hat sich eine Routine entwickelt.
       Klar knirscht es immer mal irgendwo, aber im Großen und Ganzen funktioniert
       es für alle gut.
       
       Ist es für Sie manchmal schwierig, mit den Geschichten der Menschen
       konfrontiert zu sein? 
       
       Es gibt schon bewegende Momente und da steckt immer ein großer Teil
       Hoffnung drin. Wir haben es mit Menschen zu tun, die ihren Weg gemacht
       haben, die in Europa alle Zäune eingerissen haben. Und wir können ihnen
       dabei helfen. Das ist nicht deprimierend. Schwierig ist es für mich eher,
       mich davon zu distanzieren und auch mal nach Hause zu gehen.
       
       Sind noch immer so viele Unterstützer wie am Anfang vor Ort? 
       
       Wir müssen vielleicht zweimal öfter fragen, aber wir kriegen die Leute
       zusammen. Es gibt eine Kerngruppe von 50 Unterstützern, die fast jeden Tag
       da sind. Das Zentrum ist 24 Stunden besetzt. Dazu kommt noch ein weiterer
       Kreis von mehreren hundert Helfern, die unregelmäßig vorbeikommen.
       
       Sie sind auf Spenden angewiesen. Läuft das? 
       
       Man muss den Nachdruck und die Werbung immer ein klein bisschen erhöhen.
       Wir haben für die Fährtickets schon mehr als 200.000 Euro ausgegeben.
       Ungefähr die Hälfte wurde von den Geflüchteten selbst bezahlt. Manche
       können das, andere haben einfach nichts. Es soll aber keiner zurückbleiben.
       Deshalb brauchen wir die Spenden.
       
       Wie vielen Flüchtlingen haben Sie die Überfahrt ermöglicht?Schon mehr als
       5.600 Menschen.
       
       Wie lange kann so ein ehrenamtliches Hilfesystem noch gut gehen? 
       
       Bis Weihnachten soll unsere Hilfe auf jeden Fall so weitergehen. Und
       natürlich wünschen wir uns langfristig einen Zustand, in dem die Grenzen in
       einer Art und Weise offen sind und unsere Assistenz nicht mehr benötigt
       wird.
       
       11 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Scharpen
       
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