URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Fünfzig Seufzer zum Geburtstag
       
       > So ein runder Ehrentag kann einen schon an den Rand der Existenz bringen.
       > Vor allem, wenn man eine kreischbunte Tortenmütze tragen muss.
       
       „Was für ein blöder Geburtstag!“, murmelte Raimund. „Quatsch“, erwiderte
       Theo: „Wenn ich meine Oma zitieren darf: ‚Wer nicht fünfzig werden will,
       muss jung sterben.‘ “ – „Außerdem ist immerhin Pete ziemlich spendabel
       gewesen“, kicherte ich. Der Wirt des Cafés Gum hatte sich von seiner Nichte
       eine kreischbunte Mütze stricken lassen, die wie eine Geburtstagstorte
       aussah und ein Gutschein war für fünfzig Bier auf Kosten des Hauses.
       Bedingung war allerdings, dass Raimund beim Bestellen und Verzehr des
       Bieres die Mütze trug. „Na dann“, seufzte Raimund, griff nach der Mütze und
       gab Pete ein Zeichen.
       
       Nachdem uns Pete die Runde gebracht hatte, sagte Raimund: „Wisst ihr
       übrigens, dass man ab fünfzig bei den werberelevanten Einschaltquoten nicht
       mehr mitgezählt wird? Dafür gehört man fortan zum ZDF-Zielpublikum.“ – „Und
       von der Soziologie“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „wird man als
       Jung-Senior geführt.“ – „Besser, als wenn sie dich ‚älterer Herr‘ nennen“,
       antwortete Theo: „Ich schwöre euch: Sobald ich eine Mutter sagen höre:
       ‚Steh brav auf, Ferdinand-Emil, und mach deinen Platz frei für den älteren
       Herrn‘, werde ich nie mehr Straßenbahn fahren!“
       
       „Dafür werde ich mit dem Kicken aufhören“, sagte Raimund. „Du wirst was?!“
       Seit unvordenklichen Zeiten spielten wir sonntags im Stadtpark Fußball.
       Raimund zog seine verdreckten Stollenschuhe unter dem Tisch hervor und
       sagte: „Wenn Pete es erlaubt, werde ich sie hier heute Abend an die Wand
       nageln.“ – „Aber wieso?“ – „Weil wir nicht mehr darauf zu warten brauchen,
       dass ein DFB-Scout vorbeikommt und uns zum Vorspielen einlädt. Mittlerweile
       ist ja sogar der Bundestrainer jünger als wir!“ – „Du hast ernstlich
       gehofft, dass . . .“, stotterte ich, doch Theo winkte ab und lachte: „Er
       glaubt ja auch immer noch, dass eines Tages ein TV-Regisseur auf ihn
       zustürmen und vom Fleck weg als ‚Tatort‘-Kommissar verpflichten wird. Dabei
       würde unser ZDF-Opa dann in einem Programm auftreten, das er selber gar
       nicht mehr sehen darf.“
       
       Raimund schwieg eine Zeit lang verbissen. „Andere“, sagte er dann, „sind
       zumindest mit einer gewissen Grandiosität gescheitert. Aus ihnen ist zwar
       auch nichts geworden, aber sie sind wenigstens nach Berlin gegangen, nach
       London, New York und dort bedeutungslose Wichtel geblieben. Jetzt stehen
       sie seufzend am Hudson und wissen, dass immerhin dieses Bild Größe hat. Wir
       hingegen sitzen immer noch in diesem Provinznest und bekommen gestrickte
       Tortenmützen geschenkt!“
       
       Kurz darauf tauchte Luis in der Tür auf und gab mir ein Zeichen. Ich
       wusste, dass er an Silvester ein paar Raketen für diesen Tag
       beiseitegeschafft hatte, und schob Raimund hinaus auf die Terrasse. Es war
       kein guter Tag für ein Feuerwerk: Die Raketen hoben nur wenige Meter vom
       Boden ab, beschrieben einen müden Bogen und stürzten zischend in den träge
       an der Terrasse vorbeiziehenden Fluss. Doch Raimund war begeistert, rief:
       „Das ist perfekt, ich liebe euch!“, und brach in ein irres Gelächter aus,
       das ihn stundenlang nicht mehr losließ.
       
       14 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Männer
   DIR Kneipe
   DIR Nachbarn
   DIR Andalusien
   DIR Kinder
   DIR Freundschaft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Das Lächeln des Knorzes
       
       In der Kneipe Quasimodo 17 hatten stets die Brummbären ihr Zuhause
       gefunden. Plötzlich wird sie von gut gelaunten Menschen aus aller Welt
       geentert.
       
   DIR Die Wahrheit: Die Ellenbogen der Frau von Ritter
       
       Nachbarn können urplötzlich zu einer Landplage mutieren. Doch wer gewöhnt
       sich nicht an alles?
       
   DIR Die Wahrheit: Ruckediguh, Blut ist im ...
       
       Wenn einen echten Sechzehntelandalusier erst einmal die Eifersucht gepackt
       hat, ist kein Schuh mehr vor ihm sicher.
       
   DIR Die Wahrheit: The Mighty Gnome
       
       Im Umgang mit übersinnlich begabten Kindern ist Vorsicht geboten. Das gilt
       besonders, wenn sie im Schlepptau ihrer Mutter sind.
       
   DIR Die Wahrheit: Des Teufels tollkühner Tiefbautrupp
       
       Wenn es nach 50 Jahren unvermutet zu klappern beginnt, sind nicht immer
       natürliche Alterungsprozesse dafür verantwortlich.