# taz.de -- Nachruf auf Chantal Akerman: Sie filmte einfach hinein ins Treiben
> Ihre Filme waren eigenwillig und von einem hypnotischen Sog. Mit 65
> Jahren ist die belgische Regisseurin Chantal Akerman gestorben.
IMG Bild: Chantal Akerman beim Photocall, als 2011 ihr Film „La Folie Almayer“ in Venedig vorgestellt wurde.
Das Buch, das die Filmwissenschaftlerin Ivone Margulies Mitte der 90er
Jahre über Chantal Akerman herausgegeben hat, trägt den Titel „Nothing
Happens“. Er soll eine Anspielung darauf sein, dass in Akermans Filmen
gemeinhin nicht viel passiert. Das stimmt. Und es stimmt natürlich nicht.
„Chantal Akerman‘s Hyperrealist Everyday“, so heißt das Buch weiter. Das
verrät schon ein wenig mehr.
Die 1950 in Brüssel geborene Belgierin hat in vielen ihrer Filme Alltag
vermessen. Ihren eigenen. Aber auch den Fremder. Eine Fremde hat es über
das Akerman-Universum hinaus zu einiger Berühmtheit gebracht in ihrem Film
„Jeanne Dielman“, gespielt von Delphine Seyrig. 1975 beschäftigte sich die
Regisseurin in über 200 Minuten mit jener Dame aus dem Haus 23 quai du
Commerce in Brüssel, zeigte sie beim Kochen von Kartoffeln, Putzen und
schließlich in der Eskalation. Lange passiert nichts. Und dann: ein Knall.
Ein Knall ist auch die Nachricht von Chantal Akermans Tod im Alter von
fünfundsechzig Jahren in Paris. 2011 ist ihr letzter Film erschienen, „La
Folie Almayer“, ein Drama basierend auf einer Erzählung Joseph Conrads.
Über vierzig Dokumentar-, Spiel- und Essayfilme konnte Akerman seit 1968
realisieren.
## Selbstversuche in einem Hotelzimmer
Viele bestechen durch ihren Mut, ihre Eigentümlichkeit, ihre, im besten
Sinne, Fadheit. Inhaltlich wie formal. Das Filmstudium begann die damals
noch nicht einmal volljährige Akerman 1967 in Brüssel. Sie brach es bald
ab. Studierte in Paris. Ging nach New York. In dieser Zeit sind Filme wie
„La chambre“ (1972) entstanden. Oder „Hotel Monterey“ (1973).
Selbstversuche, in denen Akerman sich über mehrere Tage in ein karges
Zimmer einschloss, ständig nackt war, raffinierten Zucker zu sich nahm, den
sie mit einem großen Löffel direkt aus der Tüte holte.
„Hotel Monterey“ geht auf eigensinnige Weise Hotelflure ab. Schleicht sich
in Zimmer. Die Kamera fährt Fahrstuhl. Wunderbare Perspektiven. Akerman ist
es gerade in ihrer frühesten Schaffensperiode gelungen, einen eigenen Stil
zu definieren. Einen Stil, der sonderbar changiert zwischen präziser Arbeit
und dem Zufall, für den immer noch gerade genügend Platz da war.
Ein schönes Beispiel hierfür ist „News from Home“ (1977), auch er ein
Vertreter der New-York-Zeit. Akerman verliest Briefe ihrer Mutter. In ihnen
immer wieder dieselbe Beschwerde: die Tochter meldet sich nicht. Das Klagen
der Mutter unterlegt Chantal Akerman mit Bildern Manhattans. Die Subway,
die Avenues, die Yellow Cabs. Akerman filmt einfach hinein ins Treiben. Und
erwischt dabei so manch besonderes Gesicht, bemerkenswerte Geste,
skeptischen Blick.
## Bewohner einer russischen Trabantenstadt
Zufall ist auch, dass ich meinen ersten Akerman-Film in New York gesehen
haben: „D‘Est“ (1993). Und der hypnotische Effekt, der von ihm ausging, ist
mir noch sehr präsent. Über endlose Minuten beobachtete Akerman unter
anderem das stete, unfassbar träge Pendeln von Bewohnern einer russischen
Trabantenstadt. Plattenbauten, Bahnhofshallen, Frost, Schnee, die
Abwesenheit von Sonne, die fortwährend leuchtenden Straßenlaternen. Ein
schweres Leben. Vor dem Kino aber war der Sommer. Und Akermans „D‘Est“
klang lange nach.
Chantal Akerman soll gesagt haben, dass sie sich im Alter von fünfzehn
Jahren dazu entschloss, Filmemacherin zu werden, nachdem sie „Pierrot le
fou“ von Godard gesehen hat. Hier war es Ferdinand Giffron (Jean-Paul
Belmondo) erlaubt, aufgrund eines Kriminalfalls die bürgerlichen Fesseln zu
durchschlagen, es mit so etwas wie Freiheit zu versuchen.
Es ist eine schöne Vorstellung, dass jene Geschichte Chantal Akerman
veranlasste, zur Kamera zu greifen, um Filme zu machen, mit deren Hilfe sie
sich selbst befreite. Ein seelischer Ausdruck, der bleibt.
6 Oct 2015
## AUTOREN
DIR Carolin Weidner
## TAGS
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DIR Kino
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