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       # taz.de -- Literarisches Tagebuch von Helene Hanff: Sightseeing am Sehnsuchtsort
       
       > Für die US-Autorin Helene Hanff ist englische Literatur ein
       > Sehnsuchtsort. Über ihre Leidenschaft führte sie ein hinreißendes
       > Tagebuch.
       
   IMG Bild: Very British: Inbrünstige Lektüre in London.
       
       Am Donnerstag, dem 17. Juni, 1971 geht für Helene Hanff ein lang gehegter
       Wunsch in Erfüllung: Die 56-jährige New Yorker Autorin fliegt zum ersten
       Mal in ihrem Leben nach London. In die Stadt, die durch die inbrünstige
       Lektüre englischer Literatur zu ihrem Sehnsuchtsort geworden ist.
       
       Das Risiko, beim Abgleich der im Geiste erlebten Stadt mit dem realen Ort
       eine saftige Enttäuschung zu erleben, ist ihr sehr wohl bewusst. Besonders,
       weil sich ihre Kenntnisse der englischen Metropole und ihre „Sehnsucht, die
       wie Heimweh war“, zu großen Teilen von Klassikern wie den Tagebüchern von
       Samuel Pepys oder den Aufzeichnungen des Philosophen John Locke und damit
       aus dem fernen 17. Jahrhundert speisten.
       
       Möglich wurde die Reise dank des Erfolgs ihres Buchs „84, Charing Cross
       Road“, in dem Hanff ihren zwanzig Jahre währenden Briefwechsel mit Frank
       Doel und anderen Mitarbeitern des in der Londoner Charing Cross Road
       ansässigen Antiquariats Marks & Co. dokumentiert. Weil die Buchliebhaberin
       sich nicht mit amerikanischen Nachdrucken zufrieden geben will, wendet sie
       sich 1949 auf der Suche nach bezahlbaren – Hanff lebt als
       Drehbuchschreiberin von der Hand in den Mund – Originalausgaben obskurer
       englischer Bücher an Marks & Co. Die anfangs rein geschäftliche
       Korrespondenz gerät zu einer interessierten und unterstützenden
       Brieffreundschaft – Hanff schickt trotz prekärer Existenz Fleisch und Eier
       an die unter der Lebensmittelrationierung im Nachkriegsengland leidende
       Belegschaft des Antiquariats –, die private Themen mit einschließt.
       
       Romane interessieren sie nicht, schon gar nicht die der London-Ikone
       Charles Dickens, einzig Jane Austen kann vor ihrem Urteil bestehen. „Ich
       kann mich nicht für Dinge interessieren, die Leuten, die nie gelebt haben,
       nicht zugestoßen sind.“ Unverblümt mokiert sich Hanff über ihrer Meinung
       nach missratene Übersetzungen oder Editionen. Wenn sie über die Freude
       schreibt, die ihr eine besonders schöne Ausgabe macht, erfasst sie
       unweigerlich auch die Leser.
       
       Während ihres sechswöchigen Aufenthalts in London, um die englischen
       Ausgabe von „84, Charing Cross Road“ zu promoten, führt sie ein Tagebuch.
       1973 erstmals in den USA erschienen, bringt es nun der Atlantik Verlag
       unter dem Titel „Die Herzogin der Bloomsbury Street“ in einer – Hanff hätte
       das gefallen – optisch wie haptisch ansprechenden Neuauflage auf den Markt.
       
       Mit kantigem Charme, filigranem Humor und stichelndem Witz – dessen Ziel
       oft sie selbst ist –, nimmt sie die Leser mit auf eine literarische
       Sightseeing-Tour. Sie hat Glück, die Familie ihres inzwischen verstorbenen
       Brieffreundes Frank Doel und diverse englische Fans, mit denen sie
       ungezwungen in Kontakt tritt, sind froh, mit der interessierten Besucherin
       auf Entdeckungsreise zu gehen. Beim Besuch von Shakespeares Stammkneipe
       zeigt sich Hanff verwundert, dass die anderen Gäste nicht alle ehrfürchtig
       dasitzen, sondern fröhlich und lautstark konsumieren.
       
       Hanff belässt es aber nicht bei anekdotischen Anmerkungen, sie erörtert
       kulturelle Unterschiede zwischen England und den USA, lässt sich über die
       „richtige“ Mixtur eines Martini aus oder darüber, wie man in London eine
       Busfahrt unverletzt absolviert. Sie erläutert anschaulich, warum sie für
       die Lektüre von fünf Vorlesungen, die der Schriftsteller Arthur
       Quiller-Couch in Cambridge hielt, insgesamt elf Jahre benötigte oder macht
       sich weiterführende Gedanken über ein Hinweisschild, das sie in der Nähe
       des Regent’s Park entdeckt: „Erregung von Ärgernis verboten“. Die Reise in
       die Vergangenheit, die man mit „Die Herzogin der Bloomsbury Street“
       unternimmt, ist so einnehmend und erfrischend, dass man am liebsten sofort
       die eigenen literarischen Sehnsuchtsorte Londons besuchen möchte – trotz
       der Gefahr, sie so nicht zu finden.
       
       29 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylvia Prahl
       
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