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       # taz.de -- Deutschklassen für Flüchtlingskinder: Jeder Lehrer hilft
       
       > Es gibt zu wenige Lehrkräfte für Vorbereitungsklassen. Manche Ministerien
       > werben nun um Pensionäre, die geflüchtete Kinder unterrichten könnten.
       
   IMG Bild: Zwei geflüchtete Mädchen im Unterricht
       
       BERLIN taz | Schulleiterin Inge Kerlinski hat etwas, wovon ihre KollegInnen
       in ganz Deutschland derzeit träumen: genügend qualifiziertes Personal für
       Deutschlernklassen. Dass an der Integrierten Gesamtschule
       Osterholz-Scharmbeck zwei Lehrer 10- bis 16-jährigen Flüchtlingskindern aus
       Syrien, Iran oder Afghanistan Deutsch beibringen, ist jedoch Zufall. „Wir
       hatten zwei Kollegen an der Schule, die dafür ausgebildet sind, Deutsch als
       Fremdsprache zu unterrichten“, sagt Kerlinski der taz.
       
       Das ist ein Glück, das viele Schulen in der niedersächsischen Provinz nicht
       haben. Sie müssen Stellenbedarf beim Ministerium melden – oft ohne Aussicht
       auf Erfolg. Denn Lehrer, die die Zusatzausbildung „Deutsch als
       Fremdsprache“ (DAF) oder „Deutsch als Zweitsprache“ (DAZ) vorweisen können,
       fehlen. Oder sie wollen nicht dorthin ziehen, wo sie dringend benötigt
       werden.
       
       Viele der 3.000 Schulen in Niedersachsen müssen sich mit provisorischen
       Lösungen behelfen, suchen nach Ehrenamtlichen oder bitten pensionierte
       KollegInnen, einzuspringen. „Früher hatten wir sehr viele qualifizierte
       BewerberInnen auf eine Stelle“, sagt Schulleiterin Kerlinski. „Heute können
       wir froh sein, wenn wir überhaupt jemanden finden.“
       
       Das niedersächsische Kultusministerium wirbt deshalb schon um Studierende
       und PensionärInnen. „Sobald wie möglich“ soll eine Onlineplattform fertig
       sein, auf der sich Interessierte für Sprachlernklassen melden können, heißt
       es auf Anfrage. „Wir müssen wohl so lange Lehramtsstudenten und
       pensionierte Lehrkräfte einsetzen, wie sie benötigt werden.“ Und das,
       obwohl Niedersachsen schon 550 zusätzliche Lehrerstellen an Schulen
       eingerichtet hat und für 2016 zusätzliche 40 Millionen Euro für den
       Bildungsbereich bereitstellt.
       
       ## 325.000 schulpflichtige Flüchtlingskinder
       
       Nicht nur in Niedersachsen herrscht akuter Lehrermangel. 325.000
       schulpflichtige Flüchtlingskinder werden in diesem Jahr in Deutschland
       erwartet, schätzen die Kultusminister der Länder. In Willkommens- oder
       Lernklassen sollen sie so lange Deutsch lernen, bis sie den regulären
       Unterricht besuchen können.
       
       Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) schätzt jedoch, dass die
       Länder etwa 24.000 Stellen schaffen müssten, um den Deutschunterricht für
       325.000 Flüchtlingskinder zu ermöglichen. Der Deutsche Lehrerverband
       fordert 15.000 bis 20.000 zusätzliche Stellen. Laut den Zahlen, die die
       Länder zum Schulstart im Spätsommer vorgestellt haben, klafft eine riesige
       Personallücke.
       
       Baden-Württemberg hat für Vorbereitungsklassen an Schulen und Berufsschulen
       37 Millionen Euro mehr Haushaltsmittel bewilligt und damit 563 Lehrstellen
       geschaffen. In Rheinland-Pfalz gibt das Bildungsministerium eine Million
       Euro mehr für Sprachförderung aus und stellt 240 zusätzliche Lehrer ein.
       Und die sächsische Regierung hat in zwei Asylpaketen zusätzliches Geld für
       300 befristete Lehrerstellen zur Verfügung gestellt – aber erst 250
       besetzen können. „Wir stoßen an personelle Grenzen“, sagt ein
       Ministeriumssprecher der taz.
       
       Auch Baden-Württemberg sucht händeringend nach „Interessierten“ für den
       Sprachunterricht, die aus „unterschiedlichen Gründen nicht die
       Voraussetzungen für eine Übernahme ins Beamtenverhältnis erfüllen“.
       LehrerInnen aus dem Ausland, Studierende oder AkademikerInnen mit anderen
       Abschlüssen. Und natürlich pensionierte oder künftige Lehrkräfte.
       
       ## Erst in sechs Jahren einsatzbereit
       
       „Derzeit überlegen wir, wie wir Studierende und RuhestandsbeamtInnen
       einbinden können“, sagt Ministeriumssprecher Michael Hermann. Das Problem
       sei nicht die Anzahl der Flüchtlingskinder. Bei insgesamt 1,5 Millionen
       baden-württembergischen Schülern seien 25.000 zusätzliche Kinder „nicht so
       dramatisch“.
       
       Aber es fehlten die Personen, die diese Arbeit machen wollen. Derzeit lässt
       das Land prüfen, wie es die Pädagogischen Hochschulen dazu bringt, die
       Fremdsprachenausbildung wieder verstärkt anzubieten. „Das Angebot ist in
       den letzten Jahren sukzessive eingeschlafen“, sagt Hermann. Dass die
       verstärkte DAZ-Ausbildung in Lehramtsstudiengängen den akuten Bedarf nicht
       stillt, ist ihm bewusst: „Selbst wenn man es jetzt sofort ankurbeln könnte,
       sind die ersten Lehrer frühestens in sechs Jahren einsatzbereit.“
       
       An sächsischen Hochschulen laufen die Gespräche dazu bereits. Allerdings
       verfolgen sie ein mittelfristigeres Ziel: In Chemnitz, Dresden und Leipzig
       sollen künftig LehrerInnen in vier Semestern die Ausbildung für das Fach
       „Deutsch als Zweitsprache“ nachholen können. In Leipzig gibt es das Angebot
       bereits. Im Sommer haben 20 LehrerInnen ihren Abschluss gemacht. Zudem
       sollen noch in diesem Jahr Zertifikatskurse angeboten werden, mit der sich
       Interessierte kostenlos für die Arbeit in Vorbereitungsklassen
       qualifizieren können. Und schneller als während eines regulären Studiums.
       
       Damit soll verhindert werden, dass erneut die PensionärInnen einspringen
       müssen. In Sachsen kommen sie schon zur „Unterrichtssicherung“ zum Einsatz:
       „Der Lehrermarkt ist generell schon leer geräumt in Sachsen. Die
       pensionierten Kräfte sind unsere ‚Feuerwehr‘“, heißt es aus dem dortigen
       Kultusministerium. Möglich, dass man diese Aussage bald in ganz Deutschland
       hört.
       
       23 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Pauli
       
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