# taz.de -- Der Regenmann Rolf Lippke will sich nicht beschweren. Sein Schirmfachgeschäft im afrikanischen Viertel in Wedding ernährt ihn. Aber kaum mehr. Lippke ist in achter Generation Schirmmacher und wird wohl auch der letzte seiner Art sein. Ein Gespräch über ein aussterbendes Handwerk: „Meinen Beruf gibt es nicht mehr“
IMG Bild: Raffiniertes Design, Gestelle aus Stahl oder Fieberglas und die Haltbarkeit von mehr als ein paar Regenschauern: Rolf Lippke weiß genau, worauf es bei einem guten Schirm ankommt
Interview Thomas WinklerFotos Christian Mang
taz: Herr Lippke, wie läuft das Geschäft mit den Schirmen?
Rolf Lippke: Zurzeit sehr gut. Im Herbst und im März läuft es immer besser.
Mein Umsatz ist ja wetterabhängig. Wenn es regnet, brauchen die Leute eben
Regenschirme. Bei Regen verkaufe und repariere ich Schirme. Wenn die Sonne
scheint, dann ist es schwieriger. Das ist dann das sogenannte Sommerloch.
Aber Sie könnten doch auch Sonnenschirme verkaufen.
Das mache ich doch. Dort hinten habe ich auch Balkonschirme, aber so etwas
kauft man sich ja nur einmal.
Und der klassische Sonnenschirm für die Dame?
Um sich vor UV-Strahlen zu schützen? Das führe ich natürlich auch. [holt
einen weißen, mit Spitzen besetzten Schirm aus dem Regal und spannt ihn
auf] Aber Sonnenschirme sind nicht mehr modern. Das war vor 100 Jahren
anders, in der Biedermeierzeit, da trugen die Damen die Sonnenschirme, weil
damals eine edle Blässe schick war. Und weil die Sonnenschirme zur Kleidung
passen mussten, brauchten die natürlich gleich mehrere Modelle.
Von einem solchen Absatz können Sie heute vermutlich nur noch träumen.
Allerdings. Das Geschäft wird immer weniger. In Kaufhäusern, in Drogerien,
im Internet, überall kann man Schirme kaufen. Dann machen die Modefirmen
auch noch Schirme so nebenbei, und verkaufen die als Accessoire, aber das
sind oft auch keine guten Schirme. Davon muss ich mich abheben, von der
Masse.
Und wie machen Sie das?
Erst einmal können die Leute bei mir die Schirme auch zur Reparatur wieder
vorbeibringen, weil ich Schirmmacher gelernt habe. Außerdem verkaufe ich
bessere Schirme, die bis zu 50 Euro kosten und auch ein paar Jahre halten.
Es gibt auch ein paar, die kosten bis zu 100 Euro, weil sie Satinbezüge
haben. Oder der hier . . . [zieht einen weiteren Schirm aus dem Regal] Das
ist ein Brautschirm, der kostet 125 Euro, weil er doppelt bezogen ist,
damit er wie ein Sonnenschirm aussieht, aber auch als Regenschirm
funktioniert.
Schick.
Ja, den gibt’s in drei Farben: Schwarz, Weiß, Natur.
Was unterscheidet denn einen guten Schirm von der Massenware?
Erst einmal die Haltbarkeit natürlich. Die Schirme, die ich verkaufe,
halten mehr aus als nur ein paar Regenschauer. Dann sind die Designs
verschieden, bei den besseren Schirmen haben sie andere Muster als bei den
preiswerten. Die Gestelle und die Gelenke sind auch besser verarbeitet und
stabiler. Die sind dann aus Stahl oder Fieberglas, nicht nur aus Blech oder
Aluminium. Aber es ist schwierig, denn es gibt keine deutsche
Schirmindustrie mehr. Ich beziehe die Schirme aus Österreich, Italien oder
auch Frankreich.
Aber der berühmte Knirps kommt doch aus Deutschland:
Knirps ist natürlich ein deutsches Markenprodukt. Die Firma hat 1928 den
Taschenschirm erfunden.
Zusätzlich stellen Sie auch Schirme in Handarbeit her.
Unsere Firma stellt schon seit 133 Jahren Schirme in Handarbeit her. Ich
habe das wiederbelebt seit ungefähr drei Jahren.
Die Handgefertigten sind billiger als manche Teuren aus der Fabrik?
Ja, da haben sich auch schon mal ein paar Kunden gewundert und gesagt, ich
soll doch mehr verlangen. Aber meine Schirme haben keinen Satinbezug. Ich
bin überzeugt von dem Schirm, den ich mache, aber die Herstellung ist
eigentlich eher ein Hobby. Sie sehen ja, das ist nur eine kleine Ecke hier
im Laden, davon verkaufe ich nicht viel.
Wer kauft so etwas?
Vor allem junge Männer, die etwas besitzen wollen, das in Handarbeit
hergestellt wurde. 30- bis 40-Jährige, die kaufen auch so einen Schirm – ab
und zu.
Der Hipster hat den Schirm entdeckt?
Was ist das, ein Hipster?
Junge Männer, die auf ihr Äußeres achten, gern Vollbart und große
Designerbrillen tragen zu Jutetaschen.
Ja, da ist auch der eine oder andere dabei. Aber es sind auch welche dabei,
die ganz bescheiden auftreten, von denen man gar nicht denken würde, dass
sie so einen teuren Schirm kaufen. Ich glaube, das sind generell Kunden,
die was Solides, was Außergewöhnliches wollen. Die Resonanz ist auch
positiv: Die sagen, der Schirm ist robust und stabil. Viele von denen,
glaube ich, wollen auch mich und ein Handwerk, das es ja eigentlich nicht
mehr gibt, unterstützen. Aber die Kundschaft ist relativ neu, die gibt es
erst seit ein paar Jahren. Und das sind sehr wenige.
Die aber immer mehr werden?
Nein, den Eindruck habe ich nicht, die werden nicht mehr. Insgesamt kommen
vielleicht acht oder zehn pro Jahr, aber das bleibt stabil. Männer kaufen
eh selten Schirme. Auch die Handgemachten werden eher von Frauen gekauft –
dann als Weihnachtsgeschenk für den Mann. Für sich selbst kaufen Frauen vor
allem Taschenschirme.
Für den Mann ist der Schirm also eher Statussymbol?
Vielleicht, könnte sein. Trotzdem bleibt ein Schirm in erster Linie ein
Gebrauchsgegenstand. Aber ich will das auf jeden Fall ausbauen mit den
handgefertigten Schirmen.
Sie arbeiten also an Ihrer eigenen Schirmkollektion?
Ja, kann man so sagen. Bis Ende des Jahres will ich das hinbekommen haben.
Aber es gibt da viele Probleme. Das fängt schon bei den Materialien an. Es
gibt in Deutschland keinen Lieferanten mehr, von dem ich noch die
imprägnierten Stoffe für die Bespannung kriegen könnte. Die großen Firmen
beziehen das aus dem Ausland von was weiß ich woher, da komme ich gar nicht
ran mit meinem kleinen Laden. Wenn ich nicht noch altes Material von früher
hätte, aus DDR-Zeiten, könnte ich gar keine Schirme herstellen. Da habe ich
natürlich nicht mehr die große Auswahl an Mustern. Aber im Moment habe ich
gerade auch gar keine Zeit, mich darum zu kümmern, weil ich so viele
Reparaturen habe.
Bringen die Leute auch ihre Billigschirme zur Reparatur?
Ab und an kommt schon mal einer mit einem Fünf-Euro-Schirm, aber dem muss
ich dann sagen, dass sich die Reparatur echt nicht lohnt. Aber der hat den
Schirm vielleicht in Italien im Urlaub gekauft, dem gefällt das Muster oder
das Motiv, und es ist eine schöne Erinnerung an den Urlaub. Dem repariere
ich dann natürlich auch die kaputte Strebe, aber eigentlich lohnt sich das
nicht. Das ist reine Nostalgie.
Wer kommt denn dann vor allem?
Die meisten kommen, um bessere Schirme reparieren zu lassen. Oder ganz
alte, die für sie einen sentimentalen Wert haben. Ich hab hier einen alten
Schirm [zeigt einen schwarzen Schirm, dessen Bezug nur noch Fetzen ist],
der ist vielleicht hundert Jahre alt. Das war ein Sonnenschirm aus echter
Seide, von Seidenraupen, der ist völlig zerschlissen, da sind die Motten
reingegangen. Die Kundin hat den auf dem Dachboden gefunden, das ist ein
Erinnerungsstück an ihre Großmutter. Den nehme ich auseinander, entroste
ihn, lackiere ihn neu und beziehe ihn. Aber nicht mit Seide, sondern mit
einem einfachen schwarzen Bezug, ganz bescheiden. Dann kann sich die Kundin
den zu Hause in den Garderobenständer stellen.
So etwas wird heute gar nicht mehr hergestellt.
Nein, das würde ja niemand bezahlen wollen. Das ginge gar nicht, weil es
keine Lieferanten für reine Seide mehr gibt. Es gibt auch junge Leute, die
kaufen auf dem Flohmarkt billig ein Gestell und kommen dann zu mir, um sich
das beziehen zu lassen.
Wenn Sie so einen alten Schirm sehen, geht Ihnen dann das Herz auf?
Ja, wenn er in Ordnung wäre. Ich habe zu Hause auch einen alten Schirm aus
Seide. Die Seide ist so porös, den darf man gar nicht mehr aufspannen. Den
darf man nur noch angucken.
Sie sammeln alte Schirme?
Nein. Ich hab natürlich ein paar, aber ich kaufe nicht extra welche. Ich
bin kein Sammler. Als ich noch mein Geschäft in Dresden hatte, da hatte ich
einen Kunden, der hat Schirme gesammelt. Aber hier in Berlin kenne ich
keinen Sammler. Das ist nicht wie bei Briefmarken, dass es da eine
Sammlergemeinde gäbe. Es gibt eine Frau Pennewitz in Weimar, die sammelt
Schirme und hat ein kleines Museum. Dann gibt es in Italien, in Gignese,
noch ein großes Schirmmuseum. Das hat die Form eines aufgespannten Schirms.
Wie ist Ihr Verhältnis zu Schirmen denn? Können Sie die überhaupt noch
sehen nach immerhin 30 Jahren?
Ich habe immer noch ein sehr liebevolles Verhältnis zu meinen Schirmen. Ich
habe ja zuerst Buchdrucker gelernt und dann erst mal zehn Jahre als
Buchbinder gearbeitet. Dann ist mein Onkel gestorben, und ich musste mich
innerhalb von zwei Tagen entscheiden, ob ich den Familienbetrieb
weiterführen wollte. Also hab ich mich entschieden, habe Schirmmacher
gelernt, und seit 1987 ist das mein Leben.
Warum haben Sie dann Ihr Geschäft in Dresden aufgegeben?
Das war einfach nicht mehr rentabel. Zu hohe Kosten und Dresden-Neustadt
war nicht die richtige Gegend, da wohnen ja nur Studenten. Dann habe ich
bei einer Schirmtagung . . .
Schirmtagung? Was ist das?
Damals haben sich die paar Schirmmacher, die es noch gab, ab und zu
getroffen. Da haben wir uns über den Markt informiert, was es für
Neuerungen gibt. Aber das gibt es seit vier, fünf Jahren auch nicht mehr.
Bei einem dieser Treffen habe ich die Frau Metz aus Wedding kennengelernt
und die hat mir erzählt, dass sie aufhören will. Also habe ich den Laden
2009 übernommen und bin hierher gekommen. Das hat sich angeboten, weil das
Geschäft alteingesessen war. Berlin ist einfach größer als Dresden.
Sie wohnen aber weiterhin in Ebersbach?
Ja, ich komme Montag her, hab den Laden vier Tage lang auf und fahre
Freitag wieder heim.
Wollen Sie nicht ganz umziehen?
Nein, ich habe Familie und ein großes Haus in Ebersbach. Ich wohne da, wo
die Spreequelle ist. Ich würde die Landschaft vermissen, ich muss auch mal
abschalten. Notfalls habe ich ja zu Hause im Keller auch noch eine
Werkstatt und nehme mir schon mal Arbeit mit, arbeite Samstag, Sonntag
durch. Aber ich muss auch immer mal was im Garten machen, ich kann mich
nicht immer nur mit Schirmen beschäftigen.
Welcher Schirm ist eigentlich der richtige für das Berliner Wetter?
Die meisten wollen hier leichte Schirme, die man in die Handtasche stecken
kann. Das sind Damen, die auf dem Weg zur Arbeit einen Schirm dabei haben
wollen, für den Notfall. So ein Stadtschirm muss ja nur einen Regenschauer
abhalten, um zum nächsten U-Bahnhof zu kommen. Die meisten gehen ja nicht
stundenlang im Regen spazieren. Ideal sind solche Trekkingschirme, das sind
besonders leichte Minischirme, damit man beim Wandern nicht so schwer zu
tragen hat.
Aber kann man den nicht auch mal als Wanderstock verwenden?
Nein, das ginge nicht. Dafür gibt es aber Stützschirme. Das ist ein Schirm,
der sieht auch aus wie ein Schirm, aber der Stock ist stabil genug, um ihn
als Spazierstock zu benutzen. Ältere Damen nehmen die gern, wenn sie zu
eitel sind, um einen Spazierstock zu benutzen. Die verkaufe ich relativ
oft, die Leute werden eben immer älter. Außerdem können sie die hier gleich
auf die richtige Höhe anpassen lassen, denn bei einem Spazierstock muss der
Arm leicht angewinkelt sein. Dann gibt es noch den Fritz-Schirm . . .
Was ist denn das für ein Schirmmodell?
Das ist eine spezielle Griffform für den Schirm, die vom Alten Fritz
entworfen worden ist. Wahrscheinlich jedenfalls. Außerdem habe ich es noch
Partnerschirme.
Ein Partnerschirm?
Ein großer Schirm, unter den zwei Personen passen. Dann habe ich noch
Golfschirme, bei denen sieht der Knauf aus wie ein Golfschläger, aber die
gehen ganz schlecht. Hier im Wedding gibt es wahrscheinlich nicht so viele
Golfspieler.
Kommen denn Ihre Kunden ausschließlich aus dem Wedding?
Ich habe vor allem Stammkundschaft, die mich noch aus der Müllerstraße 119
kennen, wo ich vorher war. Die meisten haben sogar schon bei der Frau Metz
eingekauft. Das sind meist ältere Damen, aber die werden natürlich immer
weniger. Ansonsten kommen die Leute aus der ganzen Stadt, aus Ostberlin,
aus Charlottenburg, aus dem Südosten, die kommen von überall, um
Reparaturen vorbeizubringen. Und per Post kommen Pakete mit Reparaturen aus
ganz Deutschland, auch aus Süddeutschland. Das wird immer mehr, denn die
Schirmmacher werden immer weniger. Wir sind am Aussterben, also
konzentriert sich das auf die wenigen.
Aber es gibt noch andere Schirmmacher in Berlin?
Es gibt noch eine Kollegin, Schirm-Schirmer in Steglitz. Und dann gibt es
noch eine Frau in Ostberlin, in Biesdorf, die macht noch Reparaturen,
glaube ich, aber wohl in ihrer Privatwohnung. Es gibt in ganz Deutschland
vielleicht noch 20 Schirmmacher. Das ist ein aussterbendes Handwerk. Wir
wurden 1990 in der Handwerkerrolle gelöscht. Im Westen sogar schon 1985.
Erst, als ich mich nach der Wende zur Meisterprüfung anmelden wollte, habe
ich das erfahren.
Das bedeutet, Sie könnten heute gar keinen Lehrling ausbilden?
Nein, den Beruf gibt es nicht mehr. Das würde jetzt auch keinen Sinn
machen, ich habe gar nicht genug Arbeit für zwei Leute, das würde nicht
reichen. Selbst wenn ich wollte, dürfte ich niemanden anlernen. Ich habe
den Beruf vor über 30 Jahren in der DDR gelernt. Ich komme aus einer
Schirmmacherfamilie, alle meine Vorfahren waren Schirmmacher, das geht
acht Generationen zurück. Das geht jetzt zu Ende. Ich bin der letzte
Mohikaner.
Macht Sie das traurig?
Darüber kann ich nicht nachdenken. Ich bin jetzt 52 Jahre, ich muss noch
ein paar Jahre arbeiten. Und wer weiß, was bis dahin passiert. Vielleicht
kommt ja auch alles wieder zurück? Aber im Moment sieht es wirklich nicht
danach aus. Wenn Sie mich fragen, und so traurig das ist: Das mit der
Schirmmacherei, das ist vorbei.
24 Oct 2015
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DIR Thomas Winkler
DIR Christian Mang
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