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       # taz.de -- Gastfreundliche Insel: „Is al god“
       
       > Borkum ist die erste ostfriesische Nordseeinsel, die Flüchtlinge
       > aufnimmt. Und das reibungslos. Hetze ist bislang nur vom Festland zu
       > hören.
       
   IMG Bild: Angekommen nach einer sehr langen Reise: die BorkumerInnen begrüßen Flüchtlinge auf ihrer Insel.
       
       Borkum taz | Kein Aufstand. Die Katastrophe findet nicht statt. „Was die
       BorkumerInnen leisten, ist phänomenal“, schwärmt Fokke Schmidt von der
       Borkumer Flüchtlingshilfe (BFH). Selbst die zwei Ureinwohner palavern am
       Tresen: „Man seit dem ja nich. Sin tscha boven. Is al god“ – zu
       Hochdeutsch: „Man sieht sie nicht. Die sind da draußen. Alles ist gut.“
       
       Boven – draußen – das ist die fünf Kilometer von der Stadt entfernte
       Jugendherberge. Dorthin sind seit letzter Woche Freitag 300 Flüchtlinge in
       die Erstaufnahme eingewiesen worden. Der erste Eindruck ist mäßig: Das 15
       Hektar große Gelände der ehemaligen Kaserne ist umzäunt. Dunkle, rote
       Backsteinhäuser sind um einen asphaltierten Appellplatz sortiert. Seit 1996
       ist das Anwesen die größte Jugendherberge Europas. Drei Häuser sind jetzt
       für Flüchtlinge vorgesehen. In den anderen Häusern urlauben „normale“
       Gäste. Einen durch die Essensausgabe geteilten Raum teilen sich alle
       morgens, mittags und abends.
       
       „Konflikte gibt es nicht. Wir haben keine Stornierungen“, sagt
       Herbergsleiterin Petra Bötcher. Der Appellplatz liegt verwaist, die
       Spielplätze rund um den Platz sind leer. „Komisch, sonst spielen die hier
       den ganzen Tag Fußball. Iraner gegen Afghanen“, sagt Bötcher. Aber alle
       Türen sind offen. Hier wird keiner kontrolliert und der Landkreis hat allen
       ausländischen Gästen für die Zeit ihres Aufenthaltes kostenlose
       Busfahrscheine gegeben. Offenkundig werden sie genutzt.
       
       Seit dem 16. Oktober sind die Flüchtlinge da. „Frem`schiet“, wie Insulaner
       alle Zugereiste zu nennen pflegen. Jetzt sind es aber richtig Fremde.
       Menschen mit anderer Hautfarbe und exotischen Sprachen. Mit nix am Leib als
       ihrem Leben und vielleicht den Handys: die Verbindung zu Freunden und
       Familie und zu Verkehrsmeldungen auf dem langen Weg von Syrien,
       Afghanistan, Iran, Pakistan und Irak nach Borkum.
       
       Schon in den 1920er Jahren hatte Borkum lange vor Hitlers Machtübernahme
       folgendermaßen für sich als Ferieninsel geworben: „Borkum ist garantiert
       judenfrei.“ Doch seit der Zuweisung der Flüchtlinge scheint das Bessere in
       den Insulanern schier zu explodieren. Zwar murren vereinzelt Urlauber und
       beschimpfen die ausländischen Gäste als „Pulloverschweine“, ansonsten zeigt
       Borkum bemerkenswerte Gastlichkeit.
       
       „Es gibt immer Spinner, aber wir sind überwältigt über die freundliche
       Aufnahme der Menschen“, freut sich Andreas Langhau vom Borkumer Forum für
       Flüchtlinge, einer Aktion der drei Borkumer Kirchengemeinden. Nur nur auf
       dem Festland wird geätzt. Die Allgemeine Wählervereinigung AWG, eine rechte
       Wählergemeinschaft im Landkreis Leer, vertreten im Leeraner Stadtrat und im
       Kreistag, ließ sich zu dieser Presseerklärung hinreißen: „300 Flüchtlinge
       auf Borkum in der Jugendherberge unterzubringen, bedeutet das Ende der
       beliebten Urlaubsinsel. Es ist unverantwortlich, jeden Flecken des
       Landkreises unüberlegt mit Zugereisten zu besetzen. ‚Sofort abschieben‚
       kann nur das Motto lauten.“ Sprachrohr der AWG ist ein Leeraner
       Rechtsanwalt. Er wird nahezu regelmäßig wegen Volksverhetzung und
       Beleidigung belangt, wünschte Behinderten schon mal, sich doch bitte
       „selbst der Endlösung zuzuführen“.
       
       Nichts von solchem Hass ist auf Borkum zu spüren. Im Gegenteil: „Nur auf
       Gerüchte hin, wir würden vielleicht Flüchtlinge aufnehmen, haben wir uns
       Anfang des Jahres organisiert“, erinnert sich Fokke Schmidt. Sofort bekamen
       die Flüchtlingshelfer Spenden: fünf Tonnen Kleider konnten sie schon vor
       der Ankunft der ausländischen Gäste in die Erstaufnahme Wittmund aufs
       Festland schicken. Jetzt stapeln sich in fünf Zimmern der Jugendherberge
       Kleider, Spielzeug und Artikel des täglichen Bedarfs. „Es ist der
       Wahnsinn“, sagt Schmidt begeistert.
       
       ## „Da müssen wir ran“
       
       Über 900 Menschen auf Borkum und am Festland unterstützen die
       Flüchtlingsinitiative. Gefordert sind beide Seiten: „Allein vom Festland
       aus könnte die ganze Arbeit wegen der vielen Fahrerei gar nicht bewältigt
       werden“, sagt Andreas Langhau vom Borkumer Forum für Flüchtlinge. „Da
       müssen wir Borkumer ran.“ Das Forum kümmert sich um die soziale Betreuung
       der Flüchtlinge und will jetzt Sprachkurse anbieten; die Flüchtlingshilfe
       ist für Sach- und Geldspenden zuständig. Sie unterhält auch die
       Kleiderkammer in der Jugendherberge. Dass der Borkumer Bürgermeister just
       in der stressigen Aufnahmephase in Urlaub gefahren ist, kommentiert Langhau
       gelassen: „Das kann er ruhig. Er hat ja uns, seine Bürgerinnen und Bürger.“
       
       „Wo sind die verdammten Kinderspielzeuge? Windeln, wo sind die Windeln?“,
       Fokke Schmidt wühlt sich durch fünf Zimmer mit Stapeln von Kisten, Kasten
       und Säcken. In einer halben Stunde soll ein Spielzimmer eingerichtet sein.
       Denn heute kommen zum ersten Mal Familien mit kleinen Kindern auf die
       Insel. Bei der Ankunft am Hafen begrüßen Mitglieder des Borkumer Forums
       traditionell die Ankommenden. Etwas gespenstisch schiebt sich die
       Sonderfähre an den Anleger. Die Eingänge sind mit schweren Stahlrollläden
       verschlossen. Langsam werden sie hochgezogen. Kurze Zeit passiert nichts.
       Dann verlässt eine Familie mit einem Baby als erste das Schiff. Eine
       ehrenamtliche Betreuerin bricht in Tränen aus. Der Anblick dieser Kinder,
       wochenlang aus Asien nach Europa auf der Flucht, das ist zu viel für sie.
       
       Doch dann entspannt sich alles. In kleinen Trupps kommen die Flüchtlinge
       durch den Passagierweg, begleitet von Helfern der Roten Kreuzes. Viele
       beantworten das Begrüßungswinkern der Borkumer mit einem freundlichem
       Lächeln. Manche winken fröhlich zurück. Die Menschen aus Afghanistan,
       Syrien und Irak sind dem fünffach überbelegten Aufnahmelager in Bramsche
       entkommen. Eine Ehrenamtliche vom Forum erinnert sich: „Die erste Gruppe
       vom Freitag hatte es viel schwerer. Die kam in einem Rutsch aus Bayern, die
       meist jungen Männer waren völlig erschöpft.“ Einige Flüchtlinge gerieten in
       Panik. Niemand hatte ihnen erklärt, wohin die Reise gehen würde. Dann
       landeten sie am Meer und sollten auf ein Schiff „Die hatten panische Angst,
       sie würden irgendwo ausgesetzt“, meint Langhau.
       
       ## Nahezu Selbstaufgabe
       
       Der Einsatz aller Beteiligten grenzt an Selbstaufgabe: „Wir wussten erst
       einen Tag vorher ungefähr, wer, wann, wie kommt. Trotzdem mussten wir
       Strukturen für die Aufnahme so vieler Menschen schaffen,“ erinnert sich
       Herbergsleiterin Bötcher. Das Problem: Zwar hat die Jugendherberge noch
       Gäste, aber ab Ende Oktober ist die Saison zu Ende und das Haus faktisch
       geschlossen. „Die MitarbeiterInnen verzichten vorerst auf Urlaub. Wir haben
       Saisonverträge verlängert und wir müssen auch neue Kräfte einstellen“, sagt
       Petra Bötcher.
       
       „Oberste Priorität war, die Menschen aus den unwürdigen Zeltstätten und
       überfüllten Notunterkünften herauszuholen“, erklärt die Sprecherin des
       Landkreises, Maike Duis. Auf Borkum hätten sie ein Dach über dem Kopf,
       wohnten in großzügigen, warmen Einzel- und Familienzimmern, bekämen drei
       Mahlzeiten am Tag. Alle behördlichen und medizinischen Untersuchungen
       könnten dort vorgenommen werden, sagt Duis. „Alles weitere, Integrations-
       und Sprachkurse, Freizeitangebote, wird in den nächsten Tagen organisiert.“
       
       LandkreismitarbeiterInnen sind vor Ort, um die Bedürfnisse der Borkumer
       Neugäste herauszufinden. Eines steht bereits auf der Tagesordnung: Es soll
       eine regelmäßige medizinische Sprechstunde in der Herberge stattfinden, das
       Klinikum Borkum soll die Akutversorgung, zum Beispiel von Schwangeren,
       sicherstellen. Insgesamt 4.000 Flüchtlinge sollen in diesen Tagen laut
       Beschluss des niedersächsischen Innenministeriums in 20 Städten und
       Landkreisen untergebracht werden – in Orte, die bis Ende vergangener Woche
       noch keine Unterkünfte oder gar Erstaufnahme-Einrichtungen hatten. „Alles,
       was besser ist als Turnhalle, ist gut“, sagt Maike Duis dazu.
       
       An manchen Orten scheint es eng zu werden. Der Landrat von Wittmund hat
       Alarm gegeben, er könne niemanden mehr unterbringen. Auch im Landkreis Leer
       gibt es noch mehr Erstaufnahmen in Turnhallen und Gewerbeimmobilien. Neben
       den aktuellen Notunterbringungen gibt es noch die regulären Zuweisungen von
       Menschen, deren Asylantrag bearbeitet wird. So werden beispielsweise auf
       Borkum ab November 35 Asylbewerber erwartet, die in Wohnungen der Gemeinde
       untergebracht werden sollen.
       
       ## Die Freiwilligen nicht ausnutzen
       
       „Die Jugendherberge Borkum ist ein sehr guter Ort“, sagt Engeline Kramer,
       über 20 Jahre Ausländerbeauftragte des Landkreises Leer. Sie hat gekündigt,
       weil ihrer Meinung nach der Landkreis Ausländerpolitik nicht ernst nimmt.
       Heute arbeitet sie als Trainerin für interkulturelle Kommunikation. Über
       das ehrenamtliche Engagement ist sie verblüfft. „Die Leute auf Borkum sind
       toll. Aber sie dürfen nicht ausgenutzt werden“, sagt Kramer. „Die
       Landkreise und Gemeinden bekommen Geld für die Flüchtlinge. Die Kommunen
       sollten erst mal alle notwendigen Leistungen erbringen, bevor sie
       Ehrenamtliche einsetzen.“
       
       ## „Lug und Trug“
       
       Kramer schüttelt den Kopf über die Hetze gegen Flüchtlinge im Internet.
       „Lug und Trug“, nennt sie das. „Die Leute, die meinen, Flüchtlinge ziehen
       Geld ab, haben nichts verstanden.“ Flüchtlinge seien ein Wirtschaftsfaktor.
       Vermieter verdienten sich dusselig, die Behörden kauften den Einzelhandel
       für Dinge des täglichen Bedarfs leer: „Auch der Borkumer Einzelhandel freut
       sich.“
       
       Fokke Schmidt von der Flüchtlingshilfe beruhigt das nicht. Ende November
       soll offiziell die Unterbringung in der Jugendherberge beendet sein.
       Inoffiziell wird ein Termin Ende Februar genannt. „Und es bleibt ja nicht
       bei unseren 300 Gästen. Die werden ja schon jetzt wieder aufs Festland
       verteilt, wenn sie irgendwo Angehörige haben oder einfach weg wollen oder
       schon Fahrkarten zum Beispiel nach Skandinavien haben“, sagt Schmidt. Die
       Betten in der Herberge würden ja immer wieder neu belegt.
       
       So rechnet man unter der Hand damit, dass Borkum Durchlaufstation von
       mindestens 1.000 Flüchtlingen wird. Viel zu tun also für die BorkumerInnen.
       
       26 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Schumacher
       
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