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       # taz.de -- Höhere Mathematik
       
       > FUSSBALL Ein erstarkter Gegner aus Gladbach führt Hertha BSC im
       > Olympiastadion an die Grenzen der Naturgesetze. Pál Dárdai erkennt im
       > Spiel eine Identitätsstörung seines Teams: „Das sind wir nicht“, meint
       > er, gewinnt der Niederlage 1: 4 aber auch Gutes ab
       
   IMG Bild: Alles nicht so dramatisch, enttäuscht ist man aber doch. Herthas Genka Haraguchi
       
       Von Torsten Landsberg
       
       Für manch einen Philosophen oder Theoretiker ist Fußball mathematisch
       erklärbar. Statistische Analysen und stochastische Berechnungen gehören
       heute standardmäßig zur Taktikschule. Für Hertha BSC stand vor dem elften
       Spieltag eine recht simple Wahrscheinlichkeitsrechnung auf dem Stundenplan.
       
       Das Team von Borussia Mönchengladbach, das am Samstag im Olympiastadion
       gastierte, lag zwei Punkte hinter Hertha. Allerdings hatte die Mannschaft
       nach einem miesen Saisonstart und einem Trainerwechsel zuletzt fünf Spiele
       am Stück gewonnen und zu einem Ballbesitzfußball zurückgefunden, der dem
       Niveau der unantastbaren Bayern sehr nahe kommt. Wie wahrscheinlich würde
       es also sein, dass diese Serie in Berlin reißt?
       
       ## Viel zu schnell
       
       Hertha hatte zuletzt spielerisch etwas geschwächelt, aber trotzdem gegen
       Ingolstadt und im Pokal gegen den Zweitligisten FSV Frankfurt gewonnen.
       Gladbach jedoch „war viel zu schnell für uns“. Herthas Trainer Pál Dárdai
       umschrieb nach dem Spiel schnörkellos, was sich zuvor auf dem Feld
       zugetragen hatte: Gladbach hat die Fähigkeit, den Ball minutenlang in den
       eigenen Reihen kreisen zu lassen, ehe auch nur der kleine Zeh eines
       Gegenspielers in den Dunstkreis der Kugel kommt.
       
       Begünstigt wird dieses Spiel insbesondere, wenn Gladbach in Führung liegt,
       gegen Hertha also nach 25 Minuten. Zwei Minuten später baute Ex-Herthaner
       Raffael die Führung aus, eingeleitet von einem fürchterlichen, weil sorglos
       gespielten Fehlpass des Kilometerfressers Per Skjelbred. Bei zwei Toren
       innerhalb so kurzer Zeit spricht man gewöhnlich von einem Doppelschlag, was
       kein mathematischer Fachterminus ist, aber am Samstag unterstrich, dass der
       Tag gemäß Wahrscheinlichkeitsrechnung für Hertha gelaufen war.
       
       Andererseits: Wer, wenn nicht Fußball sollte der Mathematik den Finger
       zeigen? Salomon Kalous Kopfball lenkte Gladbachs Torwart Yann Sommer um den
       Pfosten, nur Minuten nach den Gladbacher Treffern. Ein Anschlusstor hätte
       die mathematischen Gesetzmäßigkeiten vielleicht noch einmal ausgehebelt.
       Kalou musste in der Halbzeit mit einer Platzwunde ausgewechselt werden.
       
       Nach zehn Minuten im zweiten Durchgang pfiff der Schiedsrichter einen
       Elfmeter für Gladbach, 0:3, höhere Mathematik. Als Herthas Alexander
       Baumjohann in der 82. Minuten per Strafstoß zum 1:3 verwandelte, brandete
       noch mal so etwas wie Hoffnung auf, stattdessen schloss Gladbach einen
       Angriff mit dem 1:4 ab.
       
       Nach Herthas gutem Saisonstart fragten Skeptiker zuletzt, ob das nun eine
       nachhaltige Entwicklung sei oder die bislang gesammelten Punkte vor allem
       wertvolle gegen den Abstieg sein würden. So dramatisch ist es eher nicht.
       Hertha liegt auf Rang 6, eine vor der Saison für unmöglich gehaltene
       Platzierung. Das sieht wohl auch Pál Dárdai so. Der Trainer erkannte im
       Spiel gegen Gladbach eine Identitätsstörung seines Teams: „Das sind wir
       nicht“, meinte er, gewann der Niederlage aber auch etwas Gutes ab.
       Vielleicht sei die „gar nicht so schlecht für Berlin“, schließlich hätten
       „einige hier ja schon von der Europa League geredet“.
       
       Dem gemeinen Hertha-Fan wird ja gern Divenhaftigkeit unterstellt: Nach
       einem Sieg wähnt er seine Mannschaft auf dem Weg zur Meisterschaft, nach
       einer Niederlage mit anderthalb Beinen in der Zweiten Liga. Dass die
       Anhänger tatsächlich auf den Europacup hoffen, ist aber eher fraglich.
       Gegen Mönchengladbach feierten sie ihr Team bis zum Schluss und stimmten
       Freudengesänge an, die sonst vor Spielende nur bei eigener Führung durchs
       Stadion hallen. Sie bewiesen damit ein sehr feines Gespür für die Übermacht
       eines Gegners, der seine Spielkultur kontinuierlich über Jahre entwickelt
       hat. Gladbach ist dort, wo Hertha perspektivisch hinwill.
       
       An solchen Tagen ist dann mal Zeit für Nebendarsteller. Auch das
       Maskottchen durfte mitspielen. Nicht das hauptamtliche namens Herthinho
       zwar, aber ein anderer Brasilianer: Ronny, längst ausgemusterter und in
       Ermangelung eines Abnehmers bislang auf der Tribüne weilender Spielmacher
       vergangener Tage, durfte seine ersten Spielminuten in dieser Saison
       absolvieren.
       
       ## Der Himmel wurde rot
       
       Der romantischen Atmosphäre mit knapp 60.000 Zuschauern passte sich dann
       auch der Himmel an, als er sich über dem Marathontor in ein dunkles Rot
       färbte und die Zuschauer massenweise zu ihren Smartphones greifen ließ, um
       den Moment festzuhalten. Wie gut, dass die Anzeigetafel auf der anderen
       Seite hängt.
       
       2 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Torsten Landsberg
       
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