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       # taz.de -- Privatheit zweiter Ordnung: Vorsicht, Kamera
       
       > In der Galerie Mitte zeigen junge Künstlerinnen und Künstler aus Riga und
       > Bremen Fotoarbeiten aus dem Grenzbereich zwischen Privatem und
       > Öffentlichem​.
       
   IMG Bild: Gehüllt enthüllende Verschleierung in Gazestoff. (Ausschnitt)
       
       Was privat und was öffentlich ist, weiß man heute nicht und wusste es
       eigentlich noch nie so recht zu sagen. Auch nicht, wenn heute ständig
       überall das Verschwinden des Privaten beklagt wird. Irgendwo in der
       Vergangenheit imaginiert man eine schöne und reine Form dieser Privatheit.
       In Reinformen wie diesen zu denken, ist eigentlich immer falsch, und doch
       sind solche Reinformen notwendig, um überhaupt denken zu können.
       
       In den Arbeiten, die zurzeit in der Ausstellung „Private/Public“ in der
       Galerie Mitte zu sehen sind, wird mehrheitlich die Vermittlung beider
       Bereiche verhandelt. Die künstlerische Leiterin der Galerie, Ele Hermel,
       hatte bereits im letzten Jahr insgesamt zehn junge Künstlerinnen und
       Künstler aus Bremen und Riga eingeladen, sich mit den Mitteln der
       Fotografie diesem Komplex zu widmen. Letztes Jahr waren die so entstandenen
       Arbeiten bereits in Bremens Partnerstadt Riga zu sehen.
       
       Fotografie liegt als Mittel der Beschäftigung mit dieser Grenze, dem
       Übergang vom Privaten ins Öffentliche, nahe. Blicke transzendieren diese
       Grenzen. Sie können ambivalent und uneindeutig sein. Die Durchdringung von
       Grenzen wird mit dem Blick aus der Distanz heraus vollzogen. Hilfsmittel
       wie der Fotoapparat und erst recht eine per App gesteuerte Kamera wirken
       als Beschleuniger. So sind solcherlei Grenzüberschreitungen über größere
       Distanzen paradoxerweise hinweg möglich.
       
       So etwa in Norbert Kluges Serie „Any Time Anywhere“. Hier erscheint der
       sphärendurchbrechende Blick als omnipotent. Kluges Fotos wurden von
       verschiedenen Webcams an unterschiedlichen Orten überall auf der Erde
       aufgenommen. So richtig weiß man nicht, wo man sich befindet, man könnte es
       aber theoretisch wissen. Dass in Innenstädten und an Bahnhöfen
       Überwachungskameras angebracht sind, hatte man ja gewusst. Allerdings sind
       manchmal auch die Fassaden von Wohnhäusern oder gezielte Ausschnitte davon
       zu sehen. Das erscheint dann weniger plausibel. Der Blick ist starr, aber
       unbeirrbar, der hier durch die Öffnungen der Fenster in die Wohnungen
       einfällt. Und so kann man Menschen beim Ein- oder Auskleiden beobachten.
       Auch Bilder eines Badestrandes hat Kluge ausgewählt. Der Künstler sitzt
       dabei an seinem Computer Hunderte von Kilometern entfernt von dem Strand,
       den er beobachtet. Das Prinzip einer Grenzüberschreitung auf Distanz war
       bereits mit einem Fernrohr zu haben. Die Computertechnik schafft vielleicht
       nichts grundlegend Neues. Die Beschleunigung alter Prinzipien aber schafft
       durchaus neue Formen der Wahrnehmung.
       
       Einen völlig anderen Zugang wählt der Rigaer Fotograf Rihards Rusmanis. Auf
       seinen Bildern zeigt er Gebäude, die in blauen oder grünen Gazestoff
       gehüllt scheinen. Stoffbahnen ziehen sich wie fast durchsichtige
       Kleidungsstücke um alte und verwitterte Häuser in der Rigaer Altstadt, wo
       es offenbar üblich ist, auf diese Weise marode Bauten zu sichern, um zu
       verhindern, dass herabfallendes Mauerwerk Passanten verletzt oder Autos
       beschädigt. Doch gleich, was ihr Zweck ist, hier kommt es auf ihren Anblick
       an. Und da wird es interessant. Denn ein Wohnhaus hat zunächst ja die
       Funktion, Privatheit zu schaffen innerhalb eines Gemeinwesens. Ein Wall
       gegen die Öffentlichkeit, im Guten wie im Schlechten, auch Privatheit kann
       Terror bedeuten. Der Stoff aber lässt auch die Mauern transparent
       erscheinen.
       
       Besonders beeindruckend ist die Arbeit der Rigaer Künstlerin Viktorija
       Eksta, die im Grunde performativ ist. Ihre Fotografien haben am ehesten
       dokumentarischen Charakter. Mit einer Mittelformatkamera hat sie sich
       selbst bei unterschiedlichen Tätigkeiten und in verschiedenen Aufzügen
       fotografiert. Das matte Licht und die trüben Farben lassen beinahe an eine
       Traumsequenz denken. Die Fotografin war allein auf einen verlassenen alten
       Hof gefahren. Eine alte, inzwischen verstorbene Frau hatte dort gewohnt. In
       diese verblichene private Welt tauchte Eksta ein ließ sie zu ihrer eigenen
       werden. In den Kleidern der Verstorbenen bereitet sie sich Essen zu,
       sortiert Blumen, wechselt eine Glühbirne. Es ist eine Art Privatheit
       zweiter Ordnung, die wir hier zu sehen bekommen. Oder eine Art Privatheit
       nach der Privatheit vielleicht.
       
       „Private/Public“ ist noch bis zum 8. November in der Galerie Mitte im Kubo
       zu sehen
       
       18 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Radek Krolczyk
       
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