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       # taz.de -- Comics ohne Inhalt: Keine Helden, keine Monster​
       
       > Abstrakten Comics gelingt das paradoxe Kunststück, Geschichten zu
       > erzählen, die keinen Inhalt haben. Ein entblößtes Medium findet​ zu sich.
       
   IMG Bild: Eine Geschichte ohne Inhalt: „Enigma“ von Rosaire Appel​.
       
       Erst auf den zweiten Blick verlieren die Zeichnungen den Sinn: Gerade noch
       war hier ein Totenkopf, dort ein Finger mit lackiertem Nagel. Aber nichts
       davon ist wirklich auf den Grafiken der New Yorker Künstlerin [1][Rosaire
       Appel] abgebildet. Und was geübte ComicleserInnen für Schrift halten
       müssen, entpuppt sich als bedeutungslose Zeichenkette. Es handelt sich
       nicht um eine fremde Sprache, sondern lediglich um Formen in Paneelen.
       
       Zu sehen sind diese abstrakten Comics derzeit im Bremer „[2][Projektraum
       404]”. Galerist Gregor Straube widmet sich hier seit eineinhalb Jahren
       nicht nur, aber vor allem dem Comic, dessen künstlerische Bandbreite er von
       den Rändern her erschließt. Outsider-Art hat er bereits gezeigt und mit den
       Kollektiven „Habeas Corpus“ und „Nos Restes“ Szenegrößen des Belgischen
       Indie-Comics ausgestellt: brutale Geschichten mit Sex und pissenden
       Monstern. Doch die abstrakten Formen sind nicht weniger aufregend. Es ist
       die bisher größte Ausstellung der Galerie – zu groß für die nur zwei
       kleinen Räume und darum auf drei Etappen verteilt. An diesem Wochenende
       eröffnet Straube den abschließenden dritten Teil.
       
       Bis vor Kurzem hing hier noch ein großformatiges Buch des Franzosen
       [3][Florian Huet]. Wegen der Rahmen zwischen den Panelen ist es leicht als
       Comic erkennbar. Doch die Inhalte fehlen: Statt Bildern hat das Papier
       rechteckige Löcher unterschiedlicher Größe – Spuren einer Erzählung. Eine
       ganzseitige Lücke lässt einen Wendepunkt vermuten, Seiten mit vielen
       kleinen hingegen beschleunigte Handlung und rasche Perspektivenwechsel.
       
       Im letzten Teil rückt nun die Schrift in den Mittelpunkt. Rosaire Appel aus
       New York und [4][Satu Kaikkonen] aus Finnland verorten sich an der Grenze
       von Comic und asemischem Schreiben. Hier sind es bedeutungslose Symbole,
       die eine inhaltsleere Geschichte erzählt. Was als paradoxe Spielerei für
       KennerInnen erscheinen mag, war im Comic schon immer angelegt und begründet
       vielleicht gar dessen Erfolg. Es ist ja schon sonderbar: Man schaut sich
       ein paar Bilder an und liest kurze Texte in Sprechblasen. Und doch erlebt
       man im Comic auf kleinstem Raum Geschichten in einer Intensität, mit der
       sich andere erzählende Medien schwertun. Das bezeugen viele Millionen Fans
       und immer wieder verblüffte FeuilletonistInnen.
       
       Das Besondere am Comic ist das, was man nicht sieht – in der Leere zwischen
       den Panelen, wo das LeserInnengehirn aus voneinander unabhängigen Bildern
       eine Erzählung schmiedet. Benannt hat das der Comickünstler [5][Scott
       McCloud] in seinem Standardwerk „Understanding Comics“ von 1993. Comic,
       sagt McCloud, sei darum eine „unsichtbare Kunst“. Im Abstrakten wird das
       reflektierbar. Es hat sich eine neue Szene herausgebildet. Längst mischt
       auch die moderne Kunst mit und nähert sich dem Massenmedium von außen.
       
       Dabei ist das Subgenre einmal mit der Persiflage auf den abgehobenen
       Kunstdiskurs an den Start gegangen: Szenegottvater Robert Crumb hat seinen
       zentralen abstrakten Strip ironisch als „Abstract Expressionist Ultra Super
       Modernistic Comics“ betitelt – 1968 war das. Straubes Ausstellung arbeitet
       heute mit der benachtbarten Weserburg zusammen, einem Sammlermuseum für
       moderne Kunst. Auch einige der KünstlerInnen bewegen sich in diesem Umfeld.
       Rosaire Appels Arbeiten sind als kostspielige Kunstdrucke oder als
       aufwendig produzierte Bände in Kleinstauflagen erhältlich. Mit den
       Schmuddelcomix der Counterculture hat das nichts mehr zu tun – und mit
       Superhelden-Heften vom Kiosk schon gar nicht.
       
       Doch dass auch in dieser Sparte abstrakt gearbeitet wird, zeigt die
       Ausstellungsreihe ohne Berührungsängste. Im zweiten Teil war der Engländer
       [6][Gareth A. Hopkins] zu sehen, der sich auf die Suche nach einem
       Comicautoren mit dem bemerkenswert unauffälligen Namen John Smith gemacht
       hat. Einer unter Hunderten Berufsschreibern, die Woche für Woche Science
       Fiction Storys für das Comic-Magazin [7][2000 AD] ersinnen. Bereits seit
       1977 dominiert das Heft den britischen Massenmarkt, war aber eben auch
       Kaderschmiede für praktisch alle, die aus Großbritannien zu Weltruhm kamen:
       Alan Moore, Neil Gaiman oder Grant Morrison.
       
       Für sein Projekt „After Smith“ hat Hopkins Arbeiten aus längst vergriffenen
       Ausgaben des Magazins geborgen und einzelne Seiten nachgearbeitet. Die
       Inhalte allerdings sind stark verfremdet. Statt Raumschiffe und Superhelden
       sind organisch wirkende Formen zu sehen, die an stark vergrößerte Pflanzen-
       oder Muskelfasern erinnern. Die Originale stammen von unterschiedlichen
       Zeichnern und spielen in verschiedenen fantastischen Welten. Verbunden sind
       sie nur über John Smith, den Autoren der Geschichten.
       
       Was Hopkins mit der Reduktion über Bord wirft, ist scheinbar Genreballast:
       Science-Fiction-Blabla und okkultistisches Irgendwas. Hopkins bescheinigt
       John Smith die Fähigkeit, gerade über das Triviale Unsagbares darzustellen
       und erfahrbar zu machen. Mit seiner Begeisterung für den unscheinbaren
       Smith ist Hopkins nicht allein. In Internetforen hat sich ein Zirkel von
       Fans gefunden, der seine Energie wohl auch daraus zieht, dass ihr Idol
       sonst kaum jemandem etwas sagt.
       
       Zwischen solch fiktivem Starkult und den erkenntnisphilosophischen
       Reflexionen des Genres behandelt der abstrakte Comic alte und neue
       Sinnfragen des ehemaligen Schundmediums. Was ist eigentlich Comic? Waren
       Höhlenmalereien schon welche? Und sind Graphic Novels das gleiche in teuer?
       Beantworten kann die kleine Ausstellung im „Projektraum 404” das freilich
       nicht. Doch sie gibt einen bemerkenswert plastischen Eindruck von der
       tobenden Debatte.
       
       Sa, 17. 10. bis So, 8. 11., Do/Fr 16–19 Uhr und Sa/So 14–17 Uhr,
       „Projektraum 404“, Bremen
       
       16 Oct 2015
       
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