# taz.de -- Werkschau in der Pinakothek München: Befragende Übermalungen
> Aufarbeitung reaktionären Gedankenguts: Die große Retrospektive der
> Berliner Künstlerin Amelie von Wulffen in der Pinakothek München.
IMG Bild: Wulffens Bildräume thematisieren das Verhältnis von Bildnis und Malerei. Amelie von Wulffen, Ohne Titel, 2003, DekaBank Kunstsammlung, Frankfurt am Main.
München taz | In der Pinakothek der Moderne in München stellt der Kurator
für Gegenwartskunst, Bernhart Schwenk, seit Jahren und sehr dezidiert
(vielleicht auch stur, denn sie wird ja in regelmäßigen Abständen totgesagt
oder wenigstens als unzeitgemäß gescholten) herausragende Positionen der
zeitgenössischen Malerei vor. Dort ist nun Amelie von Wulffens erste
umfängliche Retrospektive in Deutschland zu sehen.
Die Entwicklungsgeschichte der an den Akademien in München und Wien
ausgebildeten Künstlerin kann als nervöser Suchscheinwerfer auf dem
Problemfeld der heutigen Malerei gedeutet werden. Ihre in den Jahren von
2000 bis 2015 entstandenen Arbeiten belegen die komplexen Herausforderungen
einer aktuellen und originären Herangehensweise. Der große Saal, in dem die
Bilder und Zeichnungen, die Objekte und Rauminstallationen, die Filme
versammelt sind, kann auf ideale Weise – und auf Anhieb – als schon auch
provozierender, schwer zu kontrollierender Diskursraum verstanden werden.
Dem Aufmerksamen wird er zur Erzählkapsel. Die Werke zeichnen einen Weg
nach, der von der Fotografie und Malerei verbindenden Collage über die
Zeichnung wieder zur Malerei führt, mit Überkreuzungen, die von Skepsis,
Rückbesinnung und steter Suche erzählen.
Die 1966 in Breitenbrunn geborene Amelie von Wulffen setzt sich in den
frühen Arbeiten mit dem Verhältnis von Fotografie und Malerei auseinander.
Das ist zunächst schon deshalb erstaunlich, weil hier die Fronten im Grunde
längst geklärt sind und spätestens seitdem die Fotografie den Rang einer
autonomen Kunstgattung erklommen hat, nur noch ansatzweise, etwa mit den
Übermalungen respektive Anverwandlungen Gerhard Richters oder Arnulf
Rainers, diskutiert werden.
Umso interessanter sind die Verknüpfungen von Wulffens. Vielfach ist die
Fotografie – eine Landschaft, eine Architektur, eine Situation – der
Nukleus eines Gemäldes. Sie umkreist die Fotografie malerisch, sperrt sie,
den (vermeintlichen) Inbegriff von Realität, in ein oft wucherndes,
malerisches Geflecht von Farben und angedeuteten Formen. Interieurdetails,
Köpfe, Ornamente und rätselhafte Objekte tauchen scheinbar zusammenhanglos
auf: dazwischen monströse Architekturen der Macht und der Unterdrückung.
## Versatzstücke des Unbewussten
Auf Russlandbesuchen mit ihren Eltern in den siebziger Jahren ist sie ihnen
erstmals begegnet, sie haben sich als Faszinosum eingebrannt, später hat
sie sie „umgebaut“, in unmögliche Albtraumgebäude. Der freilich niemals
verifizierbaren, sogenannten Wahrheit der Fotografie setzt Amelie von
Wulffen die visuellen Versatzstücke des Unbewussten entgegen. Eine neue,
bedingungslos selbstbezogene Wirklichkeit entsteht.
Die wiederum ist geprägt von einer in der Wolle gefärbten,
bildungsbürgerlichen Herkunft, von einer früh und gründlich geformten
Gedanken- und Bildwelt, einer traditionsgebundenen Weltanschauung (die
Mutter veröffentlichte Gedichte, man verkehrte mit Martin Heidegger und
Ernst Jünger, die Verdrängungsmechanismen funktionierten). Die junge Frau
stellt infrage, das künstlerische Ich nährt sich von den daraus
resultierenden Zweifeln, verarbeitet Faszination und Klage gleichermaßen
intensiv.
Und formuliert knapp. „Wenn man sieht, was drauf soll, hör ich auf“, sagt
sie. Folglich hat manches Motiv den Charakter einer Ölstudie: Der
künstlerische Gedankentransport ist radikal, vielleicht sogar ungeduldig
unterbrochen – und der Spannungsbogen ausgereizt. Zum Kaleidoskop der
frühen Jahre, zu einem riesigen raumhohen Panorama sind diese
Gemäldecollagen und Aquarelle in barocker Hängung an einer Wand des Saals
zusammengefügt – ein geballter Kosmos egozentrischer Lebenslandschaften.
Der Betrachter muss auf Distanz gehen, um zu erfassen.
## Aufarbeitung und Familienkonstellation
Den Schlussakkord dieser ersten großen, der Aufarbeitung, der
Familienkonstellation, dem reaktionären Gedankengut gewidmeten Werkphase
setzt Amelie von Wulffen 2007 mit der Rauminstallation „Die Vertuschung“,
die im Zentrum der Münchner Präsentation steht: zwei von dem
Künstlerkollegen Lucio Auris gebaute Sofas mit der Lüftlmalerei entlehntem
Dekor, darauf Matratzen mit farbig marmoriertem Bezug; die ausziehbaren
Ablagen enthüllen steife Veduten von ikonischen Aufmarschplätzen der Nazis,
Dachbodenfundstücke aus dem Elternhaus.
Der einst stramm systemabhängige Maler hat sich nach dem Krieg der
Abstraktion – der Marmorierung? – zugewandt. Und alles war – scheinbar –
erledigt. An dem verwinkelten Raumteiler daneben hängt, wie eine
Fototapete, die Großaufnahme des elterlichen Flurs mit den typischen
Accessoires der biederen Nachkriegszeit, im Türrahmen die Porträts der
unbeschadet verehrten Hausgötter des Intellekts: Jünger und Heidegger.
Sujets, die sich mit der Bewältigung der familiären und eigenen
Vergangenheit befassen, interessieren Amelie von Wulffen fortan nicht mehr.
Sie zeichnet. Sich. Mal vor dem Spiegel, mal nach Fotografien, später aus
dem Gedächtnis. Stilsicher unperfekt, irgendwie unbeholfen und sehr
lebendig sind diese Selbstporträts. Weit über die übliche Selbstbefragung
hinaus reizt sie der Gegensatz oder Nichtgegensatz von Realität und
Identität. Die geradezu exzessiv fokussierte Serie ist, so die Künstlerin,
vielmehr ein Essay über das Zeichnen, die Personenbeschreibung.
## Selbstbildnis Goyas
Sie kehrt zur Malerei zurück und stellt Künstlerselbstbildnisse in das
Zentrum ihres Bildprogramms. In verschiedenen Versionen malt sie das
berühmte Selbstbildnis Goyas an der Staffelei oder eines der allseits
bekannten Selbstporträts von Max Beckmann. Aus der Wiederholung, der
Adaption des Originalbilds wird nicht nur eine szenische, sondern eine
eigenartig physische Begegnung mit dem Künstler. Auch durch die
Überblendung des Porträts mit persönlichen Motiven und häufig in ihrem
Œuvre wiederkehrenden Vignetten hinterfragt sie in assoziativen Bildräumen
das Verhältnis von Bildnis und Malerei.
Ein weiterer Akt der feindlich-freundlichen Besetzung (im Wortsinn) ist die
Bemalung alter Schulstühle mit Porträts der Großen wie van Gogh, die in der
Ausstellung als Sitzgelegenheit für die Betrachter einer Comic-Diashow
dienen. Nichts ist heilig. Manchmal übernimmt sie typische Details aus dem
Werk anderer, zum Beispiel die charakteristischen Bootspartien des
Impressionisten Gustave Caillebotte, die dann, ähnlich wie ehemals die
collagierten Fotos, umrankt von mehr oder weniger enigmatischen Figuren und
Blüten, mit einer arkadischen Landschaft verschmelzen.
Amelie von Wulffens Kunst ist durch und durch selbstreferenziell, das ist
oft anstrengend, wird aber großartig in den absolut nur um sie und ihre
Befindlichkeiten kreisenden Comics aufgelöst. In wieder – vorgeblich –
sorgloser, zeichnerischer Manier ironisiert sie ihren Alltag. Und unseren
gleich mit. Die Comics geben ihr die annähernd vollkommene Möglichkeit,
Sprache und Erzählung linear zu organisieren, völlig konträr zu ihrem
strengen malerischen Konzept der von Farbe und komplexer Schichtung
getragenen Schilderung.
3 Nov 2015
## AUTOREN
DIR Annegret Erhard
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