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       # taz.de -- Parlamentswahl in Kanada: Wie der Vater, so der Sohn
       
       > Justin Trudeau gelingt in Kanada ein historischer Machtwechsel. Das Land
       > besinnt sich wieder stärker auf seine liberalen Wurzeln.
       
   IMG Bild: Justin Trudeau kann sich freuen: Seine Liberalen haben eine klare Mehrheit errungen.
       
       Ottawa taz | Justin Trudeau kennt die steinerne Villa am Sussex Drive
       Nummer 24 in Ottawa nur zu genau. Als Kind lernte er in einem blau
       gestrichenen Zimmer im ersten Stock das Laufen. Später spielte er in den
       Gängen des Gebäudes mit seinen Brüdern Verstecken, lernte Boxen und raufte
       sich im Garten mit Freunden. Vier Jahrzehnte ist es her, dass Trudeau an
       der Seite seines berühmten Vaters im Haus des kanadischen Regierungschefs
       aufwuchs.
       
       Nun kehrt Justin Trudeau triumphal an den Ort seiner Kindheit zurück. Der
       Parteichef der kanadischen Liberalen und Sohn des ehemaligen
       Premierministers Pierre Elliott Trudeau besiegte am Montag bei der
       Parlamentswahl den konservativen Amtsinhaber Stephen Harper und wird schon
       bald wieder in das Anwesen hoch über dem Ottawa River einziehen.
       
       Für Kanada ist es ein historisches Ereignis. Mit dem Sieg von Trudeau
       junior wird zum ersten Mal der Sohn eines ehemaligen Premierministers das
       mächtigste Amt des Landes übernehmen. Trudeaus Partei konnte letzten
       Hochrechnungen zufolge 185 der 338 Mandate im kanadischen Parlament
       gewinnen und erzielte damit eine absolute Mehrheit der Sitze. Harpers
       Konservative erhielten dagegen nur 100 Sitze, die Sozialdemokraten 42, der
       separatistische Bloc Québecois 10 und die Grünen einen Sitz.
       
       „Kanada hat sich heute für einen echten Neuanfang entschieden“, rief
       Trudeau seinen jubelnden Anhängern in Montréal zu. Er versprach, die
       polarisierende Politik Harpers zu beenden und das Land wieder stärker
       zusammenführen zu wollen. Dabei will er Kanada zu seinen liberalen Wurzeln
       zurückbringen und das internationale Image des Landes verbessern.
       
       ## Kanada steht vor einem Linksruck
       
       Innenpolitisch steht Kanada vor einem Linksruck. Trudeau will
       Besserverdienende höher besteuern, die Sparpolitik des Landes lockern und
       die Investitionen des Staates erhöhen, um damit die Wirtschaft anzukurbeln.
       Trudeau hat auch versprochen mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen und die
       militiärische Interventionspolitik der Vorgängerregierung zu beenden.
       Umstrittene Pipelineprojekte an der Pazifikküste sollen auf den Prüfstand
       gestellt werden.
       
       Der Sieg Trudeaus kommt in seinem Ausmaß überraschend. Noch zu Beginn des
       elf Wochen andauernden Wahlkampfes hatte der 43-Jährige gelernte Erzieher
       und Snowboard-Lehrer weit abgeschlagen auf dem dritten Platz zurückgelegen.
       Monatelang hatten ihn seine Gegner mit diffamierenden Wahlkampfspots
       überzogen und ihm die Eignung als Premierminister abgesprochen.
       
       Doch mit einem perfekt inszentierten Wahlkampf im Stile eines Barack Obama
       vermochte es Trudeau, sich als Erneuerer und Hoffnungsträger für jüngere
       Generationen zu präsentieren. Er profitierte dabei von einer weit
       verbreitetend Wechselstimmung: Nach drei konservativen Amtsperioden wollten
       Umfragen zufolge über 70 Prozent der Kanadier eine Neuanfang.
       
       Für den bisherigen Premier Stephen Harper ist der Aufstieg Trudeaus nicht
       nur eine politische sondern auch eine persönliche Niederlage. Harpers
       Mission war es stets gewesen, das liberale politische Erbe von Trudeaus
       Vater, der Kanada mit einer kurzen Unterbrechung von 1968 bis 1984 regiert
       hatte, zu tilgen. Daß er nun ausgerechnet von dessen Sohn vom Sockel
       gestoßen wurde, dürfte Harper schwer getroffen haben. Noch in der Nacht
       kündigte er den Rücktritt von allen Ämtern an: „Die Verantwortung für diese
       Niederlage liegt bei mir.“
       
       ## Harper verkalkuliert sich
       
       Harper hatte sich im Wahlkampf völlig verkalkuliert. Statt auf seine
       vermeintlichen Stärken in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und auf seine
       internationale Erfahrung zu bauen, hatte er eine Kontroverse über
       „kanadische Werte“ angezettelt und dabei mit anti-islamischen Parolen eine
       Mehrheit der Kanadier gegen sich aufgebracht.
       
       Für seine Gegner war das ein willkommener Weckruf. Sie vermochten mit dem
       Slogan „Anyone but Harper“ viele Wähler neu zu mobilsieren und auch junge
       Menschen zur Wahlurne zu bringen. Selbst in der erzkonservativen
       Erdölprovinz Alberta gewann Trudeau bei dieser Wahl einige Sitze hinzu –
       zuletzt hatte das sein Vater im Jahre 1968 erreicht.
       
       Trudeau junior ist damit gelungen, was ihm ein Staatsgast schon früh
       prophezeit hatte. Bei einem Empfang in Kanada 1972 hatte der ehemalige
       US-Präsident Richard Nixon dem jungen Trudeau einmal scherzhaft eine große
       Zukunft als Premierminister vorausgesagt. Jetzt ist es tatsächlich so
       genommen. Die Villa am Sussex Drive Nummer 24 steht schon bereit.
       
       20 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Michel
       
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