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       # taz.de -- Parlamentswahl in Polen: Mit Flüchtlingsfrage auf Stimmenfang
       
       > Am Sonntag könnte es zu einem Sieg der rechtsnationalen PiS kommen. Die
       > Regierung hat ihrer Hass-Kampagne nichts entgegenzusetzen.
       
   IMG Bild: Wahlwerbung in Jablonna, in der Nähe von Warschau.
       
       Warschau taz | Niemand in Polen wird nach den Wahlen am Sonntag sagen
       können, er habe es nicht gewusst: Im August forderte Andrzej Bacza, der für
       die rechtsnationale Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Stadtrat des
       oberschlesischen Cieszyn sitzt, ein Konzentrationslager für Politiker der
       liberalkonservativen Bürgerplattform (PO). Nach den Parlamentswahlen im
       Oktober würden deren „Mitglieder und Sympathisanten im Geschichtsnebel“
       verschwinden. Für sie suche er ein Terrain, rund 1000 Hektar groß, mit
       Bahnrampe und unter Strom stehenden Zaun. „Ein Scherz“, meinte er später,
       „im Internet stehen noch empörendere Sachen.“
       
       Kurz darauf schlug Professor Kapuscinski, wieder ein PiS-Stadtrat vor, die
       neue Straße zur Abfallverbrennungsanlage von Posen doch „Auschwitzer
       Straße“ zu nennen.
       
       Jüngsten Umfragen zufolge wollen knapp 33 Prozent der Wähler ihre Stimme
       der EU-skeptischen, germano- und russophoben PiS unter Jaroslaw Kaczynski
       geben. An zweiter Stelle würde die bisherige liberalkonservative
       Regierungspartei PO liegen, an dritter die rechtsradikale Bewegung
       Kukiz‘15.
       
       Ob es die fünf weiteren Parteien - die Vereinigte Linke (ZL), die
       unternehmerfreundliche „Die Moderne“, die gemäßigte Bauernpartei PSL, die
       anarchistisch-rechtsradikale „Korwin“ und die linke „Razem-Gemeinsam“ -
       über die Fünf- oder auch - für Wahlbündnisse - Acht-Prozent-Hürde schaffen,
       ist noch nicht ausgemacht.
       
       ## Minderheitenregierung als Möglichkeit
       
       Vom Ergebnis dieser kleinen Parteien hängt es letztendlich ab, welche
       Koalitionen in Frage kommen. Sollte die PiS zwar als stärkste Partei aus
       dem Rennen hervorgehen, es aber weder Kukiz‘15 noch Korwin in den Sejm
       schaffen, müsste die PiS entweder als Minderheitenregierung durchstarten
       oder aber doch wieder die Oppositionsbank drücken.
       
       Die PO ist sogar noch dringender auf die kleinen Parteien als künftige
       Koalitionspartner angewiesen. Dass Premierministerin Ewa Kopacz (PO) in
       einer Wahlveranstaltung davor warnte, neben den kleinen Parteien das
       Kreuzchen zu machen, da diese Stimmen „verloren“ gehen würden, ist eher
       kontraproduktiv. Aber die PO hat in den letzten Wochen und Monaten viele
       Fehler begangen, für die sie nun bitter bezahlen muss.
       
       Die Talfahrt der erfolgsverwöhnten Partei begann mit der „Kellner-Affäre“.
       Minister der PO-geführten Regierung waren über Monate hin in
       Luxusrestaurants abgehört worden. Medien, die der PiS nahestehen,
       veröffentlichen nach und nach die Mitschnitte und enthüllten dabei nicht
       nur einen peinlich vulgären Sprachgebrauch der Mächtigen, sondern auch eine
       hochnäsige Verachtung der kleinen Leute.
       
       Auch manche Rechnung sorgte für Aufregung: so verprassten der damalige
       Außenminister Sikorski und der Ex-Finanzmister Rostowski bei einem
       dienstlichen Mittagessen auf Steuergelder das halbe Monatseinkommen eines
       polnischen Normalverdieners. Ein anderer PO-Minister hatte vergessen, eine
       sündhaft teure Uhr in seiner Vermögenserklärung anzugeben.
       
       ## Hintermänner bislang unbekannt
       
       Keiner der Abgehörten hatte etwas Illegales getan, doch der Ruf war
       ruiniert und das Vertrauen in die PO-Regierung zerstört. Bis heute konnten
       die Hintermänner der Affäre nicht dingfest gemacht werden. Spuren, die in
       Richtung PiS als Auftraggeber weisen, gingen die Staatsanwälte bislang
       nicht nach, wie die Tageszeitung Gazeta Wyborcza vor kurzem berichtete.
       Stattdessen tauchten nun kurz vor dem Wahltermin am Sonntag neue
       Gesprächs-Mitschnitte auf.
       
       Zum Verhängnis wurde der PO auch der fehlende Mut, für die eigenen Werte
       einzustehen und offen gegen den inzwischen überbordenden Hass, die
       Niedertracht und die permanenten Lügen der rechtsradikalen Parteien, ihrer
       Medien und eifrigen Trolle im Internet vorzugehen.
       
       Einige Zeitungen haben inzwischen ihre Kommentarspalten gesperrt, weil die
       aggressiven und niederträchtigen Drohungen gegen Journalisten wie auch
       andere Diskussionsteilnehmer unerträglich wurden.
       
       Zwar gibt es inzwischen „HejtStop“-Initiativen, doch findet beispielsweise
       die konservative Rzeczpospolita, dass bereits die Identifizierung von
       Hass-Sprache bei rechten Politikern selbst Hass-Sprache sei. So finden
       Auschwitz-Witze und Hass-Parolen gegen Ausländer und Flüchtlinge immer mehr
       Anklang bei Wählern.
       
       ## Gefährliche Krankheiten
       
       „Es gibt schließlich schon Symptome für das Auftreten sehr gefährlicher
       [...] Krankheiten in Europa: die Cholera auf den griechischen Inseln, die
       Ruhr in Wien, verschiedene Arten von Parasiten und Erregern, die im Körper
       dieser Leute (muslimische Flüchtlinge, GL) nicht gefährlich sind, hier aber
       gefährlich sein können“, warnte Kaczynski auf einer Wahlveranstaltung in
       Makow Mazowiecki bei Warschau. Man wolle niemanden diskriminieren, so der
       PiS-Vorsitzende weiter. Aber prüfen müssen man das schon.
       
       Im Zweiten Weltkrieg „schützten“ die Nazis mit „Seuchensperrgebieten“, wie
       die Ghettos offiziell hießen, die christlichen Polen vor den angeblich
       typhuskranken Juden. Premier Kopacz kritisierte die Hetzrede Kaczynskis
       lediglich als „hanebüchen“, statt auf den Nazi-Kontext hinzuweisen. So
       verliert man Wahlen.
       
       23 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
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