# taz.de -- Kommentar Europas Flüchtlingspolitik: Menschen sind stärker als Zäune
> Für viele Flüchtlinge geht es ums nackte Überleben. Sie haben alles
> verloren und lassen sich von keiner Schikane aufhalten.
IMG Bild: Städte wie der „Jungle“ bei Calais sind beeindruckende Zeugnisse der schöpferischen Kraft von Menschen, die komplett auf sich allein gestellt sind.
Europas Flüchtlingskrise steht erst am Anfang. Je mehr in der arabischen
Welt und in Afrika Diktatoren Krieg gegen das eigene Volk führen,
Terrorgruppen die Gesellschaften zerstören und ganze Staaten untergehen,
desto mehr Menschen bleibt keine Alternative zur Odyssee in die Fremde, in
der verzweifelten Hoffnung, dass zumindest ihre Kinder überleben. Alle
Überlegungen über gerechtere Lastenverteilung, bessere Kontrollen,
schnellere Asylverfahren und einfachere Abschiebungen ändern daran nichts.
Sie verschärfen höchstens das Problem.
Denn wenn es um das nackte Überleben geht, lassen sich Menschen, die
ohnehin alles verloren haben, durch keine Schikane und keinen Schießbefehl
mehr aufhalten. Das sollten alle deutschen Politiker bedenken, die meinen,
man müsse nur die Regeln verschärfen und die Flüchtlinge würden sich dann,
aus Einsicht in das Leid der deutschen Bevölkerung, doch mit dem
mörderischen Bombenhagel von Aleppo oder dem eisigen Schlamm von Albanien
zufriedengeben.
Am Rande von Calais in Frankreich bauen Flüchtlinge, denen der Weg zur
Erfüllung ihres Lebensziels versperrt wird, inzwischen ganze Städte, die
mehr an kongolesische Goldgräbersiedlungen erinnern als mit Ordnung
eingerichtete europäische Turnhallen. Es sind beeindruckende Zeugnisse der
schöpferischen Kraft von Menschen, die komplett auf sich allein gestellt
sind.
Der angeblich so brüderliche französische Staat gewährt ihnen nicht einmal
ausreichenden Zugang zu Trinkwasser, ihr Wunschzielland Großbritannien
investiert mehr Geld in ihr gewaltsames Fernhalten als es für ihre
Eingliederung ausgeben müsste. Das Ergebnis: Die Flüchtlinge stecken fest –
und beweisen Erfindungsreichtum und Unternehmergeist.
Je mehr Hürden der legalen Flucht in den Weg gestellt werden, desto mehr
illegale Wege werden die Flüchtlinge finden. Dann organisieren sie ihr
Leben eben selbst. Deswegen wird Calais kein Einzelfall bleiben. Bald
könnte es an jeder innereuropäischen Grenze so aussehen. Auch die deutsche
Regierung kann natürlich Schutzsuchende einfach ignorieren, wenn sie nicht
brav sind. Aber dann verrät sie ihre eigenen Werte. Einerseits machen
Bürokraten Menschen das Leben schwer; andererseits bauen sich Flüchtling
ein Leben auf – auf welcher Seite entsteht da eine menschenwürdige Zukunft?
6 Nov 2015
## AUTOREN
DIR Dominic Johnson
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