# taz.de -- Linksradikale türkische Tageszeitung: Konsequente Opposition
> Trotz der Repression gegen Medien in der Türkei floriert die Zeitung
> „BirGün“. Doch eine Sache macht dem Geschäftsführer große Sorgen.
IMG Bild: Kritische Medien haben es in der Türkei schwer.
Istanbul taz | Fröhlicher Sarkasmus, dieser gehört zur Lebenseinstellung
von İbrahim Aydın dazu. Er ist der Geschäftsführer der linksradikalen
türkischen Tageszeitung BirGün („Ein Tag“). Er sagt: „Die Lage ist gut und
schrecklich zugleich.“
Schrecklich ist sie, weil der Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner
Strategie der Spannung bei den Wahlen am letzten Wochenende Erfolg hatte
und gefangen vom Größenwahn das Land ins Chaos zu treiben droht. Gut ist
die Lage, weil es deshalb BirGün hervorragend geht.
Geschäftsführer Aydın sitzt in seinem durch Panzerstahltüren gesicherten
Büro hinter Fenstern mit schweren Eisengittern. Bei einem Tee skizziert er
die Erfolgsgeschichte der 2004 gegründeten BirGün. Seit der Besetzung und
brutalen Räumung des Geziparks, zwei Metrostationen vom Sitz der Zeitung
entfernt, ist die Auflage von 12.000 auf gut 27.000 in die Höhe geschossen.
Welche Zeitung kann heutzutage innerhalb von drei Jahren auf solche
Auflagensprünge verweisen? Dazu kommen 5.000 Abonnenten, die die
E-Paper-Ausgabe beziehen. Auf der kostenlosen Website loggen sich monatlich
400.000 Unique User ein.
Die Genossenschaft der taz hatte anlässlich ihres 20-jährigen Geburtstags
im Herbst 2012 Spenden für vier demokratisch verfasste Medienprojekte in
aller Welt gesammelt, darunter auch für BirGün. Es kamen für alle vier
jeweils 18.000 Euro zusammen. Die türkischen Kollegen hatten mit der Spende
die Produktionsmittel modernisiert. Die voluminösen Röhrenbildschirme
wurden durch Flat-Screen-Monitore ersetzt. Die Layouter arbeiten inzwischen
an großen Bildschirmen.
## Mischung aus Boulevardblatt und Qualitätszeitung
Die Zeitung ist eine Mischung aus Boulevardblatt und Qualitätszeitung.
Gedruckt wird die Auflage in drei Betrieben, einem in Istanbul, einem in
Ankara und einem in Izmir. Die Belegschaft der BirGün ist aus einem Haus,
das zu klein geworden war, in ein relativ elegantes, größeres Büro
umgezogen. Die Redaktion konnte von rund 60 fest angestellten Journalisten
auf rund 80 vergrößert werden. Beibehalten wurde die Regelung, dass alle
ein ungefähr einheitliches Gehalt bekommen.
Sorgen machen dem Geschäftsführer die blauen Ordner auf dem Schreibtisch
gegenüber, in denen Akten von Ermittlungs- und Strafverfahren gegen BirGün
gesammelt werden. Im Augenblick sitzt niemand von der Zeitung hinter
Gittern. Der letzte Kollege wurde nach fünf Monaten entlassen.
Das kann sich schnell ändern. Die Staatsanwaltschaft leitete eine Reihe von
Verfahren wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten Erdoğan gegen
BirGün ein. Gegen Aydın wird wegen angeblicher „Propaganda für Terrorismus“
ermittelt. Es könnte sein, dass er in absehbarer Zeit sein vergittertes
Büro gegen eine vergitterte Zelle tauschen muss.
Reporter ohne Grenzen hat die Türkei auf ihrer Rangliste der Pressefreiheit
auf Platz 149 von insgesamt 180 Plätzen eingestuft, noch hinter Länder wie
Afghanistan oder Äthiopien. Ihr Verständnis von Meinungsfreiheit
demonstrieren Erdoğan und die ihm hörige Regierung seit Jahren immer
offener. Wegen missliebiger Beiträge ließen sie die Internet-Plattformen
YouTube und Twitter sperren. Gegen den Doğan-Konzern, der unter anderem die
einflussreiche Tageszeitung Hürriyet herausgibt, hat die Regierung schon
lange eine ausdauernde Kampagne gestartet.
## Redaktionelle Verstärkung
Vor allem ging es in letzter Zeit gegen Zaman, die größte Tageszeitung der
Türkei, hinter der der Islamist Fetullah Gülen und seine Bewegung stehen.
Anfänglich hat sie Erdoğan unterstützt, dann kompromittiert; jetzt will der
Präsident sie vernichten. Der Chefredakteur von Zaman wurde vorübergehend
inhaftiert und trat anschließend von seinem gefährlichen Posten ab, der
Geschäftsführer sitzt noch im Knast.
Es ist eine absurde Dialektik, aber die Repressionen gegen Medien hat für
BirGün auch positive Auswirkungen. Sie hat für redaktionelle Verstärkung
gesorgt. Liberale Zeitungen haben auf gezielten Druck der Regierung hin
immer wieder Kolumnisten entlassen – die dann bei BirGün anheuerten.
Hat der Erfolg die politische Haltung verwässert? „Nein“, man habe keine
Kompromisse bei der politischen Linie gemacht, der Opposition gegen die
„islamo-faschistische Diktatur“ Erdoğans. Die persönlichen Risiken scheinen
den BirGün-Geschäftsführer nicht zu schrecken. „Nach dem Militärputsch habe
ich elf Jahre im Knast verbracht“, sagt İbrahim Aydın und lacht.
10 Nov 2015
## AUTOREN
DIR Michael Sontheimer
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