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       # taz.de -- Berlin als Zufluchtsort: Der Blick von außen
       
       > Unsere dänische Gastautorin Henriette Harris über das Aufnahmelager
       > Marienfelde, Angela Merkels Haltung – und über ihre Heimat, das Ungarn
       > des Nordens.
       
   IMG Bild: Es ist eng hier: Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig besucht das Übergangswohnheim Marienfelde.
       
       Deutschland ist ein Land für Erwachsene, sage ich den Dänen, wenn sie mich
       fragen, was ich über meine Wahlheimat denke. Und das meine ich durchaus
       positiv. Deutschland ist ein Land, wo man historische und gegenwärtige
       Themen ernst nimmt, wo man als Mensch ernst genommen wird. Ich lerne, dass
       sogar diese Ernsthaftigkeit Spaß machen kann. Damals im Sommer 1992, als
       wir Dänen euch Deutsche bei der Fußball-EM in die Schranken gewiesen haben,
       da hat es noch Spaß gemacht, Dänin zu sein. Vor zehn Jahren, als die
       Mohammedkarikaturen um die Welt gingen, hat es mir schon weniger Spaß
       gemacht. Und nach diesem Spätsommer ist der Spaß völlig aus.
       
       Die neue rechtsliberale dänische Minderheitsregierung, die nur mit der
       Unterstützung der rechtspopulistische Dansk Folkeparti überlebt, hat früh,
       im September, die Grenze zu Deutschland dicht gemacht. In den Tagen, als
       Angela Merkel sagte: „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt
       keine Obergrenze“, da erklärte der dänische Minister Lars Løkke Rasmussen,
       dass Dänemark sich nicht an den Flüchtlingsquoten der EU beteiligen wird.
       Großzügig, wie er ist, verkündete er, dass Dänemark 1.000 Flüchtlinge
       aufnehmen wird. Eine deutsche Zeitung schrieb kürzlich über mein Land: „Das
       kleine Nachbarland, das kulturell und wirtschaftlich groß und reich ist und
       viele wunderbare Seiten hat, ist heute politisch das Ungarn des Nordens
       geworden.“ Ich lasse das so stehen. Und fahre nach Marienfelde im Südwesten
       Berlins. Hier gibt es einen Ort, an dem ich noch nie war. Einen Ort, der
       auch mit Flucht zu tun hat.
       
       In dem Haus, das ich betrete, sind Zitate von ehemaligen Bewohnern an die
       Wand geschrieben worden. Über Hochbetten prangen die Worte an der Wand: „Es
       war eben eine Notunterkunft. Sozial gesehen sind wir abgestürzt. Wir hatten
       plötzlich gar nichts mehr, nur geschenkte Sachen, und konnten uns überhaupt
       nichts leisten.“ Dies könnte von einem syrischen Flüchtling anno 2015
       kommen. Es stammt von einer Ursula Schmidt, geboren 1929, die 1973 von der
       DDR in die Bundesrepublik geflohen ist. Frau Schmidt ist einer von den 1,35
       Millionen Menschen, die nach ihrer Flucht von der DDR eine Zeit lang im
       Notaufnahmelager Marienfelde verbracht hat. Insgesamt sind zur DDR-Zeit
       vier Millionen Menschen vom Osten in den Westen geflohen. Davon drei
       Millionen vor dem Mauerbau 1961. Das Lager wurde 1953 eröffnet, zu einer
       Zeit, in der wöchentlich Tausende Flüchtlinge nach Westberlin strömten.
       
       Ich nehme an einer Sonntagsführung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager
       Marienfelde teil. Die Räume mit den Zitaten von Ursula Schmidt und anderen
       Flüchtlingen sind Teil der Dauerausstellung. Alles ganz schlicht, graue und
       braune Farben. Nur Platz für das Allernotwendigste, weil manchmal drei
       Hochbetten in einem Zimmer aufgestellt waren.
       
       Eine Teilnehmerin, vielleicht 60 Jahre alt, sagt plötzlich: „Ich war
       Fluchthelferin. Wir waren zu zweit, und wir haben Leute rübergebracht.“ Der
       Guide sagt, dass sie, wenn sie will, einen Zeitzeugenbericht abgeben könne.
       Das würde die Kuratoren hier natürlich interessieren. „Wir sind sehr
       verhalten, was das angeht“, sagt die Frau nur. Der Guide, der selber sehr
       jung gewesen sein muss, als die Mauer fiel, fragt engagiert: „Die Stimmung
       in November 1989 muss aber euphorisch gewesen sein?“ – „Na ja, beides. Wir
       wussten auch nicht, wie es weitergehen würde“, sagt die zurückhaltende
       Frau.
       
       Wissen wir alle im Moment auch nicht, denke ich. Nicht einmal Merkel. Aber
       was sie weiß, ist entscheidend. Sie weiß, dass es genügend Momente im 20.
       Jahrhundert gab, in denen Deutschland den falschen Weg eingeschlagen hat.
       Jetzt nimmt Merkel den richtigen. Auch wenn es Löcher und Steine gibt und
       sie eigentlich gar nicht weiß, wo der Weg hinführt. „Wir schaffen das.“ Sie
       ermuntert die Leute zu mehr Hilfsbereitschaft. Dann gibt es die dänischen
       Politiker, die sinngemäß sagen: Kommt bloß nicht her mit euren Traumata,
       Kindern, Bedürfnissen und muslimischem Glauben, wir brauchen das alles
       nicht. Wozu sie die Menschen ermuntern wollen, möchte man besser nicht
       wissen. Dennoch gibt es viele dänische Bürger, die Flüchtlingen helfen.
       Vielleicht gibt es selbst im Ungarn des Nordens Hoffnung?
       
       Draußen spielen acht kleine, dunkelhaarige Kinder mit dem Ball. Hier, in
       Marienfelde, ist in einem Bereich nun wieder ein Heim für Asylsuchende. Die
       Frau an dem Ticketcounter erzählt mir, dass 700 Menschen momentan hier
       untergebracht sind, davon 350 aus Syrien. „Es gibt eine große
       Hilfsbereitschaft. Neulich kamen zwei junge palästinensische Männer, die in
       der Nähe wohnen. Sie haben einfach gefragt, ob sie behilflich sein können.
       Und Ende Juli saßen hier all die männlichen arabischen Einwohner und haben
       Schultüten für die Kinder gebastelt. Das war schön“, sagt sie.
       
       In der Ausstellung hört man derweil die Rede des damaligen
       Bundespräsidenten Theodor Heuss bei der Eröffnung des Lagers am 14. April
       1953. Er nannte die vielen Flüchtlinge eine „Sturmflut“. Dabei waren die
       Probleme menschlich und verwaltungstechnisch zu lösen; das hat man
       teilweise versucht mit diesem Heim, das mit Platz für 2.700 Menschen das
       größte in Berlin war. Insgesamt gab es seinerzeit 78 Aufnahmelager in
       Berlin, meist getragen vom Deutschen Roten Kreuz. In Marienfelde wurden die
       Menschen untergebracht und überprüft. Erst der Mauerbau 1961 unterband den
       Flüchtlingsstrom.
       
       Es hängen Bilder von prominenten Leuten an der Wand. Horst Köhler und
       Hans-Dietrich Genscher sind in den 1950er Jahren aus der DDR in die
       Bundesrepublik geflohen. Köhler als Kind, Genscher als junger Mann. Angela
       Merkel ist als kleines Baby mit ihren Eltern in die andere Richtung
       übergesiedelt. Für sie bedeutete das, dass sie erst als erwachsene Frau
       ihre Geburtsstadt Hamburg kennenlernen konnte. Soweit ich weiß, war keiner
       aus den dänischen Regierungen je Flüchtling oder gefangen im eigenen Land.
       
       In Marienfelde wird mir klar, dass es zahlreiche Parallelen zwischen damals
       und heute gibt. Ich denke sofort an die riskanten Überfahrten auf dem
       Mittelmeer, wenn ich nun die Geschichte, die am 19. 9. 1959 in der Berliner
       Morgenpost stand, lese: Zwei junge Maurer aus dem Erzgebirge sind nach
       langen Fußmärschen unbemerkt durch den Griebnitzsee geschwommen und in die
       Freiheit gelangt. Oder wenn ich erfahre, dass es auch damals eine
       Balkanroute gab, weil die Zahl der Fluchtversuche, die über die Grenzen
       anderer sozialistischer Länder führte, in den 1970er Jahren stieg. Als
       DDR-Bürger stieg man in Sofia in ein Flugzeug, das man in Bukarest (mit
       gefälschten Papieren natürlich) als Bundesbürger wieder verließ, um von
       dort in die Bundesrepublik „zurückzureisen“.
       
       Nein, Spaß macht es nicht in der Erinnerungsstätte des Notaufnahmelagers
       Marienfelde. Die gut kuratierte Ausstellung erzählt von einem Regime, das
       die eigenen Bürger verfolgte; auch von deren Wunsch nach einem besseren
       Leben und den Schwierigkeiten, sich im neuen Land zurechtzufinden. Pegida,
       AfD und brennende Asylheime erklärt diese zurückliegende Geschichte nicht.
       Aber die Hilfsbereitschaft und Merkels klare Linie schon. In den Ohren
       einer Dänin klingen ihre Worte heute schon nach viel.
       
       15 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Henriette Harris
       
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