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       # taz.de -- Roman über Euthanasie: Rassenwahn als Staatsräson
       
       > Der Schriftsteller Steve Sem-Sandberg erzählt von dem Schicksal angeblich
       > lebensunwerter Kinder im Wiener Krankenhaus „Am Spiegelberg“.
       
   IMG Bild: Krankenzimmer in der Wiener NS-„Jugendfürsorgeanstalt“ am Spiegelgrund.
       
       Es gibt Situationen, die dem Menschen die Sprache verschlagen. Es gibt auch
       Situationen, vor denen die Sprache versagt. Sprachlos steht der Mensch dann
       vor dem Grauen.
       
       Am 15. Juni 1946 begann in Wien der sogenannte Steinhofprozess gegen drei
       Ärzte des Kinderkrankenhauses Am Spiegelgrund. Einer der Ärzte, der letzte
       Direktor dieser Anstalt, ein Dr. Illing, wurde in diesem Verfahren zum Tode
       verurteilt und auch hingerichtet. Sein Stellvertreter, Dr. Groß, nach
       Kriegsende in russischer Gefangenschaft erst einmal vor den Nachstellungen
       der österreichischen Justizbehörden geschützt, konnte sich auch nach seiner
       Heimkehr trickreich der strafrechtlichen Verfolgung entziehen, bis zu
       seinem Lebensende. Er wurde sogar noch Chefarzt der Klinik und anerkannter
       Gerichtspsychiater.
       
       Anna Katschenka, von der Presse „Kronzeugin“ genannt, eine der leitenden
       Krankenschwestern, wurde am zweiten Verhandlungstag vernommen und, unter
       großem Beifall des Publikums, noch im Gerichtssaal verhaftet, später unter
       Mordanklage gestellt und in einem folgenden Prozess zu acht Jahren
       Gefängnis verurteilt. Die anderen Schwestern, die Hunderte von Kindern
       „abgespritzt“ – also mit einer Spritze getötet – oder zu Tode gequält
       hatten, waren nicht mehr aufzufinden.
       
       Die eigentlichen Opfer dieser Verbrechen blieben ohnehin stumm, diese
       gedemütigten und geschundenen Kreaturen, die gequält worden waren,
       gemartert, ohne Betäubung wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen
       Untersuchungen ausgesetzt. Dabei handelte es sich um Kinder jeden Alters,
       vom Säugling bis zum ausgewachsenen Jugendlichen, sie sind schließlich, bis
       auf wenige Ausnahmen, in die Vernichtungsanstalten überführt oder an Ort
       und Stelle umgebracht worden. Der verschwiegene Zweck: die Vernichtung des
       sogenannten unwerten Lebens.
       
       ## Er hatte keine Chance
       
       Rassenwahn als Staatsräson, personalisiert wird dies in dem neuen Roman des
       schwedischen Autors Steve Sem-Sandberg. Adrian Ziegler, die Hauptfigur von
       „Die Erwählten“, stammte von Sinti und Roma ab. Das heißt: Er hatte keine
       Chance, aus dem Teufelskreis auszubrechen, in dem ihn die Annahmen der
       Rassenlehre gefangen hielten. Mit jedem Wimpernschlag verschlimmert sich
       dessen Situation. Er galt als unverbesserlich und so wurde er behandelt. Er
       hatte keine Chance. Aber er überlebte.
       
       Seine Patientengeschichte lässt sich durch Krankenblätter, Protokolle und
       Gutachten gut belegen. Die Geschichte der Institutionen, die er durchlaufen
       hat, ebenfalls. Auch die Karrieren des Personals, der Krankenschwestern,
       die ihn betreuten, der Ärzte, die ihn behandelt haben. Selbst die
       Schicksale der Kinder, die mit ihm gemeinsam aufwuchsen, sind
       rekonstruierbar. Es hatte halt alles seine bürokratische Ordnung. Doch kein
       Archiv erzählt von dem unvorstellbaren Leiden, das die Ärzte und Schwestern
       den Kindern zugefügt haben. Nirgends sind ihre Fantasien, ihre Ängste, ihre
       Hoffnungen festgehalten. Kein Bild zeigt den Schrecken in ihren Augen. Kein
       Wimmern ist zu hören, kein Schrei.
       
       Die Dokumente schweigen. Bei Steve Sem-Sandberg aber wird diese Geschichte
       plastisch
       
       ## Das Geschehen ist real
       
       Bereits dessen Roman „Die Elenden von Lodz“ (2011) hatte in Deutschland
       beachtlichen Erfolg. Schon damals hatte Sem-Sandberg reales Geschehen in
       Fiktion verwandelt. Und auch jetzt stützt der schwedische Schriftsteller
       sich auf Dokumente. Aber er verlässt sich nicht darauf. Denn worauf es ihm
       ankommt, das lässt sich nicht dokumentieren: das stumme Leiden dieser
       Kreaturen.
       
       Adrian Ziegler, der zentralen Figur der „Erwählten“, bleibt wenig erspart.
       Um ihn herum gruppiert sich das andere Personal. Immer wieder rückt er ins
       Zentrum, aber nicht als Identifikationsfigur.
       
       Der Roman besteht aus vielen kleinen Kapiteln, oft nur ein, zwei Seiten
       lang. Häufige Perspektivenwechsel, in denen sich subjektive Empfindungen,
       nüchterne Berichte sowie fantastische Vorstellungen, mit Rückblenden und
       Vorschauen mischen. Aus diesen Versatzstücken der Wirklichkeit entwirft
       Sem-Sandberg seine Fiktion, die einen mächtigen Sog erzeugt. Rückblenden
       erinnern uns immer wieder an Figuren, die längst tot sind, den kleinen
       Felix etwa, der stundenlang auf dem alten Klavier und nur auf den schwarzen
       Tasten seine Kinderlieder spielt. Wir sehen Jockerl, wie er schikaniert
       wird, oder Julius, der sich seine Schere in den Bauch gerammt hatte. Sie
       alle tauchen aus den Erinnerungen auf.
       
       ## Ein großer Roman
       
       Dazu die Schwestern, die Ärzte. System und subjektive Faktoren ergänzen
       sich, beispielhaft in der Figur eines Arztes, der auch im späteren Leben
       von Adrian Ziegler noch einmal eine üble Rolle spielen wird. Hier könnte
       Dr. Groß auch als Plädoyer für die Todesstrafe missverstanden werden.
       
       In Sem-Sandbergs kluger Konstruktion präsentieren sich „Die Erwählten“ als
       einfacher Bericht, doch mit Schicksalen, die uns ergreifen, mit
       Situationen, die uns die Schamesröte ins Gesicht treiben. Mit einer
       emotionalen Dichte, die uns manchmal vor Wut beben lässt und öfter noch die
       Tränen in die Augen treibt.
       
       Wo, wenn nicht hier, wäre Pathos angebracht? Steve Sem-Sandbergs ist mit
       den „Erwählten“ wieder ein großer Roman gelungen.
       
       13 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Lüdke
       
       ## TAGS
       
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