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       # taz.de -- Flüchtlinge in Armenien: Wenig Hoffnung auf bessere Zeiten
       
       > Die Südkaukasusrepublik nimmt Flüchtlinge aus der syrischen Diaspora auf.
       > Doch viele wollen das Land in Richtung Europa verlassen.
       
   IMG Bild: Nerses Bojagjan mit seiner Frau Elisabet und seinem Sohn Georg in der gemeinsamen Wohung in Jerewan
       
       Jerewan taz | Nerses Bojagjan sitzt in seiner Einzimmerwohnung in der
       Innenstadt von Jerewan und redet sich in Rage. Die Stimme des 57-Jährigen
       wird immer lauter. „Wir wollen Armenien so schnell wie möglich verlassen“,
       sagt er. „Wir wollen nach Deutschland.“ Sein Sohn Georg versucht ihn zu
       beruhigen und streichelt ihm über die Hand.
       
       Aber haben sie denn nicht die Fernsehbilder von den Strapazen der Flucht
       gesehen? Davon, wie Flüchtlinge in Europa manchmal behandelt werden? Georg
       weist auf das verstaubte TV-Gerät. „Wir haben keine Zeit, um uns die
       Nachrichten anzugucken. Wir arbeiten alle, Tag und Nacht“, sagt er. Der
       Vater fügt hinzu: „Und wenn es in Deutschland wirklich schlimmer als hier
       ist, warum wandern die Menschen dann aus?“
       
       Die Familie aus Syrien lebt seit einem Jahr in Armenien. Das kleine
       Kaukasusland – zwischen Georgien, Aserbaidschan, dem Iran und der Türkei
       gelegen – war die Heimat ihrer Urgroßeltern. Nerses hat einen Job in einer
       Kunststofffabrik, nicht weit von der Hauptstadt Jerewan, gefunden. Dort
       sind auch andere Armenier aus Syrien beschäftigt, berichtet er. Zwölf
       Stunden täglich arbeite er und bekomme dafür 7,50 Euro. Das wolle er nicht
       mehr.
       
       Und überhaupt: Die Einheimischen könnten die Neuankömmlinge nicht leiden.
       „Das russische Militär ist jetzt in Syrien aktiv, bald wird alles besser
       werden, und ihr könnt wieder nach Syrien zurückkehren. Hier gibt es sowieso
       keine Arbeit für uns alle.“ Solche Sätze höre Nerses oft von seinen
       Arbeitskollegen.
       
       ## Sieben Euro am Tag
       
       Neben ihm sitzt seine Frau, sie ist zehn Jahre jünger als er. Elisabet
       Keschischjan arbeitet als Köchin in einem Restaurant, dessen Eigentümer
       auch aus Syrien geflohen ist. Sie verdient sieben Euro am Tag. Dafür muss
       sie 15 Stunden arbeiten. Freie Wochenenden gibt es nicht.
       
       Trotzdem ist sie froh, dass sie bei einem syrischen Armenier arbeitet. Mit
       einheimischen Unternehmen habe sie schlechte Erfahrungen gemacht. In einer
       Reinigungsfirma, in der sie als Büglerin angestellt war, wurde ihr der Lohn
       vorenthalten. „Heute habe ich kein Geld, komm morgen wieder.“ Diesen Satz
       habe sie monatelang von ihrem Arbeitgeber gehört.
       
       „In Jerewan wohnen aber auch Menschen, die ein großes Herz haben“, sagt
       Elisabet. „Alles, was wir hier in unserer Wohnung haben, die Möbel, Decken
       und Geschirr, das hat uns eine nette Frau geschenkt. Ich habe sie zufällig
       auf der Straße kennengelernt“. Sie sei eine Art Familienberaterin für alle
       Fragen geworden. „Wie meine Schwester“, sagt Elisabet.
       
       Im September 2014 sind sie und Nerses mit ihrer jüngeren Tochter, dem
       Schwiegersohn und sechsjährigen Enkelkind über den Libanon nach Armenien
       geflohen. Die älteste Tochter blieb mit ihren Mann in Latakia. Der Sohn
       Georg kam sechs Monate später nach. „Die Gefahr der Bomben lauerte überall.
       Männer, die gegen Assad kämpften, raubten die Menschen aus und stahlen die
       Frauen auf dem Fluchtweg nach Libanon“, erinnert sich Elisabet. Sie hatten
       nur 24 Stunden Zeit, um den Libanon zu verlassen. Schon bei der
       Grenzkontrolle mussten sie ihre Flugtickets nach Jerewan vorzeigen. Diese
       hatten die Schwestern von Elisabet, die bereits 2013 aus Aleppo nach
       Jerewan geflohen waren, besorgt.
       
       ## Arbeit als Friseur
       
       Sohn Georg, 22, will seine Geschichte nicht zu Hause erzählen. Nach
       Feierabend trinkt er seinen Tee in einem Café im Zentrum von Jerewan. Er
       arbeitet als Friseur. „Die Schule mochte ich nicht. Mit 14 Jahren habe ich
       in Aleppo als Friseur zu arbeiten begonnen, zwei Jahre später hatte ich
       schon einen eigenen Salon“, erzählt Georg. Monatlich verdiene er in Jerewan
       etwa 200 Euro. In Aleppo habe er 50 Euro am Tag verdient.
       
       Georg erzählt bis ins Detail, wie er von Terroristen gefangengenommen wurde
       und geflohen sei. Überall hätten Leichen gelegen. Er sei erkrankt, nachdem
       er verschmutztes Wasser getrunken habe, seine Haut sei ihm in Schuppen vom
       Körper gefallen. Er habe seine Freunde sterben sehen. „Ich habe es
       geschafft, meine Seele zu retten“, sagt der junge Mann, „doch in Armenien
       sehe ich für mich keine Zukunft.“
       
       Seit 2012 sind 20.000 armenische Syrer nach Armenien geflohen, 16.000 davon
       leben derzeit in der Kaukasusrepublik, Hier ist die doppelte
       Staatsbürgerschaft erlaubt, und so haben in den vergangenen drei Jahren
       etwa 11.500 Armenier aus Syrien armenische Pässe bekommen, und 1.500 eine
       Aufenthaltserlaubnis.
       
       Aber Georg will keine armenische Staatsbürgerschaft beantragen, weil er
       sonst in der Armee dienen müsste. In Armenien gilt eine zweijährige
       Wehrpflicht für alle Männer bis zum Alter von 27 Jahren.
       
       ## New Aleppo ist tot
       
       In vielen anderen Bereichen jedoch haben Armenier aus Syrien Vorteile: So
       trägt der Staat einen Großteil der Kosten für Ausbildung und medizinische
       Behandlung. Die Wohnungsmiete für die Flüchtlinge wird so lange bezahlt,
       bis sie eine Arbeit gefunden haben.
       
       Das ursprünglich geplante Vorhaben eines neuen Bezirks für die syrischen
       Familien, New Aleppo genannt, ist allerdings tot. Etwa 20 Kilometer von der
       Hauptstadt Jerewan entfernt hat die Regierung 4,8 Hektar zur Verfügung
       gestellt und Erschließungsarbeiten durchgeführt.
       
       Der Plan sah vor, vier- bis fünfstöckige Gebäude mit jeweils 10 Wohnungen
       sowie 100 Privathäuser für insgesamt 2.500 Einwohner zu bauen. Das ganze
       Projekt kostet 22 Millionen Euro. Seit 2013 sind dafür jedoch nur 270.000
       Euro an Spenden eingegangen.
       
       Das Diasporaministerium in Jerewan, das eine Brücke zwischen den Armeniern
       in aller Welt und ihren Landsleuten in der Heimat Armenien sein soll, hat
       noch Hoffnung. Es ruft Armenier sowie europäische internationale
       Organisationen zu weiteren Spenden auf, um das Projekt zu retten, damit die
       Flüchtlinge Armenien nicht verlassen.
       
       „Wir haben kein Geld, um dort eine Wohnung zu kaufen“, sagt Georg. Er zeigt
       eine SMS auf seinem Handy mit einem anderen Angebot: Für 1.000 Euro könnte
       er sich in die Türkei und dann weiter nach Griechenland schleusen lassen …
       
       Nachtrag: Ende Oktober ist Georg in Deutschland angekommen.
       
       11 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tigran Petrosyan
       
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