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       # taz.de -- Debütroman über Gated Communities: Unterhalb der Realität
       
       > Draußen Armut, drinnen Überwachung: Juan Guses „Lärm und Wälder“ handelt
       > von Angst und Überlebensmodellen in der Gated Community.
       
   IMG Bild: Gut gesichert: eine Gated Community in der Nähe von San Diego
       
       Die Gated Community Nordelta gibt es wirklich. Sie liegt in Argentinien,
       etwa eine Autostunde nördlich von Buenos Aires, wurde 1999 gegründet, zählt
       circa 25.000 Einwohner und ist Schauplatz von „Lärm und Wälder“, Juan Guses
       erstem Roman. Entstanden ist der Roman aus „Pelusa“, dem Text, mit dem der
       damals 23-jährige Guse 2012 den Berliner Open Mike gewann. Guse, der in
       Hildesheim Literarisches Schreiben studierte und in letzter Zeit vor allem
       mit bemerkenswerten, online publizierten Essays auf sich aufmerksam machte,
       hat argentinische Wurzeln.
       
       Die Community im Norden von Buenos Aires kennt er gut. Gehen Sie auf die
       Webseite von Nordelta und sehen Sie sich den Promoclip an, Sie sehen:
       Segelboote, Tennisplätze, eine Schule, ein Krankenhaus, ein paar Villen,
       Supermärkte, lachende Kinder in Poloshirts, sportliche Eltern, Golfsenioren
       und viel Sonne – dazu Jazzmusik. Nordelta ist eine Welt in der Welt. Geht
       es nach dem im Roman auftretenden Investor der Community, ist sie die Beste
       aller möglichen.
       
       Vor den Mauern von Nordelta aber bietet sich ein anderes Bild. In der nahen
       Stadt regiert die Armut. Vermehrt kommt es zu gewaltsamen Unruhen. Die
       Community verspricht ihren Bewohnern Schutz und Kontrolle. Der Preis dafür:
       totale Überwachung, Polizeipatrouillen, Reiterstaffeln, Kontrollanrufe. Für
       die Bewohner Nordeltas ein guter Deal. Denn sie fürchten sich vor dem, was
       „da draußen“ passiert, und „man fürchtet sich nie genug“ – das Céline-Zitat
       zu Beginn dient als vielversprechendes Motto.
       
       Gemeinschaftlich gezittert wurde schon in T. C. Boyles „América"(“The
       Tortilla Curtain“). Darin schützen sich wohlsituierte Kalifornier ebenfalls
       mit Mauern vor den Verzweifelten, den Einwanderern aus Mexiko, die
       angeblich ihre heiter-heile Welt bedrohen. Während Boyle aber das Happy End
       wählt, treibt Guse das Spiel mit der Paranoia spätestens in seinem
       dramatischen Finish auf die Spitze. Doch davon gleich. Immerhin, die Romane
       eint das beklemmende Gefühl, das sie erzeugen, die Frage nach der Realität
       zwischen den Parallelwelten ihrer Protagonisten.
       
       In „Lärm und Wälder“ begegnet man zum Beispiel Hector. Wenn der
       Familienvater zur Arbeit in die ihm so unheimliche, weil gefährliche Stadt
       fährt, „weiß er ohne jeden Zweifel, dass etwas Katastrophales aufzieht, von
       unterhalb der Realität“. Hector ist mit seiner Familie nach Nordelta
       gezogen. Er und sein Freund Álvaro glauben fest an den bevorstehenden
       Untergang der Zivilisation. Deshalb bereiten sie sich darauf vor. Sie sind
       Prepper. Und wenn Sie jetzt nicht wissen, was das ist, schauen Sie sich mal
       im Netz um. Sie werden staunen.
       
       ## Allgegenwärtige Angst
       
       Álvaro jedenfalls baut sich ein Bug-out-Haus, eine Art Panic Room in der
       Pampa. Er kauft Waffen und stapelweise Konserven. Im Notfall hat auch er
       seine Welt in der Welt. Hector wird später in seinem Garten einen Bunker
       ausheben. Und so hat jeder seine Trutzburg, sucht Zuflucht, schafft sich
       die eigene Wirklichkeit. Mal mit, mal ohne Mauern.
       
       Hectors Frau Pelusa schließt sich einer freikirchlichen Vereinigung an, in
       der sich ihre Schwester Sara schon längst verloren hat. Joyce Meyer heißt
       deren charismatische Predigerin, die auch in Deutschland Anhänger hat. Ihre
       Predigten gibt es auf YouTube. Pelusas Freundin Jolene paart Glauben mit
       Selbstoptimierung, Pelusas Sohn Henny träumt hingegen von einer Mondbasis.
       Und dann ist da noch der Ich-Erzähler, der von der Stadt aufs Land gezogen
       ist und als Eremit in den Anden lebt – eine unerwartet blasse Hauptfigur.
       
       Die Identifikation mit ihm und den anderen, teilweise seltsam
       unreflektierten Figuren fällt schwer. Ist aber womöglich auch gar nicht
       beabsichtigt. Guse stellt keine Einzelschicksale, sondern
       (Über-)Lebensmodelle vor. Er geht aufs Ganze. Wie sieht die beste aller
       möglichen Welten aus? An welche Realität, an welche Vision klammern wir uns
       in der Angst und zu welchem Preis? Die großen Fragen – manchmal drohen
       Guses angstgetriebene Figuren hinter ihnen zu verschwinden. Und mit ihnen
       auch die Handlung. Dann meint man kurz die Schweißnähte dieses Romans sehen
       zu können. Nicht unbedingt ein Nachteil, lassen doch diverse Anspielungen
       dessen beeindruckenden Unterbau erahnen.
       
       Hier dienen bei weitem nicht nur Boyle, die Ausspähungen der NSA oder
       Orwells „1984“ als Referenz. Wenn Hector im Radio von den Unruhen in
       Nordelta erfährt, muss man beispielsweise an Orson Welles’ fesselndes
       Hörspiel „Krieg der Welten“ denken: „Ein melancholisches Lied wird für eine
       weitere Sondermeldung unterbrochen. Die Sprecherin von Radio Nordelta gibt
       durch, dass das kommerzielle Zentrum Nordeltas teilweise überrannt wurde.
       Es habe mehrere Explosionen in Eisdielen, Cafés und Boutiquen gegeben.“
       
       Dramatisches Finish inklusive: Juan Guse ist ein kraftvoller, hochaktueller
       Roman gelungen. „Lärm und Wälder“ bringt nicht nur eine Welt zum Beben.
       
       22 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moritz Müller-Schwefe
       
       ## TAGS
       
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