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       # taz.de -- Debatte Klimapolitik: Superman sind wir
       
       > Die Aktion „Ende Gelände“ blockierte den Tagebau Garzweiler. Gut so. Die
       > Energiewende darf nicht Politik und Konzernen überlassen werden.
       
   IMG Bild: Soll aus dem Braunkohleabbau aussteigen: der Energiekonzern RWE, Betreiber des Tagebaus in Garzweiler
       
       Wäre die Welt ein Hollywood-Katastrophenfilm, wäre es höchste Zeit, dass
       langsam mal eine charismatische, durchtrainierte Männerfigur das Ruder
       herumreißt, um uns alle vor dem Schlimmsten zu bewahren. Aber leider
       befinden wir uns in der Realität, an Obama glaubt schon längst niemand mehr
       und auch von Bruce Willis keine Spur. Es sieht aus, als müssten wir uns
       selbst darum kümmern, dass es ein gutes Ende mit uns und unserem Ökosystem
       nimmt.
       
       Im August dieses Jahres stürmten 1.500 Menschen den rheinischen Tagebau
       Garzweiler und blockierten für einen Tag lang den Abbau der
       klimaschädlichen Braunkohle. Die Teilnehmer*innen der Aktion „Ende Gelände“
       haben begriffen:
       
       1. Der Kohleausstieg ist eine verdammt dringende Angelegenheit. 80 Prozent
       der Kohlevorräte müssen im Boden bleiben, wenn es eine realistische Chance
       geben soll, dass die globale Erwärmung 2 Grad nicht überschreitet – so die
       Kernaussage einer viel zitierten Studie vom University College London. Wer
       genauer liest, erfährt: „realistisch“ bedeutet in dem Fall eine
       Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Fifty-fifty. Drängt sich Ihnen da nicht
       das Bedürfnis auf, dass wir, um sicherzugehen, fossile Ressourcen komplett
       im Boden lassen sollten? Hinzu kommt, dass eine um 2 Grad erwärmte Erde
       kein rosiges Szenario ist – denn mit jedem Grad steigt die Möglichkeit,
       dass das Klimasystem in einen „chaotischen“ Zustand übergeht.
       
       2. Die Angelegenheit ist zu wichtig, um sie allein der Politik oder gar den
       Konzernen zu überlassen. Wir müssen uns den Kohleausstieg – sowie eine
       gerechte, dezentrale Energiewende – selbst erstreiten.
       
       ## Verengte Sichtweise
       
       Bisweilen entsteht der Eindruck, als würde die Energiewende schon von einer
       Vielzahl von Akteuren vorangetrieben. Die G 7 und Kanzlerin Angela Merkel
       fordern eine „Dekarbonisierung“, also die Umstellung der Wirtschaftsweise
       in Richtung eines niedrigeren Umsatzes von Kohlenstoff bis zum Ende des
       Jahrhunderts. Institutionen wie das Bundesumweltamt, WWF oder Greenpeace
       legen Szenarien für eine weitgehende Dekarbonisierung der deutschen
       Wirtschaft bis 2050 vor. Diese Akteure haben trotz ihrer
       Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Ihr Begriff von Energiewende basiert
       auf Substitution (das Ersetzen von fossilen Energien durch erneuerbare) und
       auf Effizienz (mehr Output bei weniger Input). Um Energiesuffizienz, also
       absolute Energieeinsparungen, durch eine Verringerung der Nachfrage und
       Produktion, geht es so gut wie gar nicht.
       
       Nach diesem Verständnis von Energiewende kann die Wirtschaft nach der
       gleichen Logik funktionieren wie bisher. Die Energie kommt zwar zunehmend
       aus Windrädern oder Solarpanelen, die Produktionsabläufe sind sparsamer,
       aber es gilt weiterhin, dass Unternehmen wachsen müssen, um auf dem Markt
       bestehen zu können. Darum braucht es immer mehr Windräder. Und immer mehr
       Stahl, um die Maschinen zu produzieren, mit denen die (endlichen) Rohstoffe
       abgebaut werden, aus denen Windräder produziert werden. Oder Elektroautos.
       
       Wenn nun Menschen wie bei „Ende Gelände“ den Klimaschutz selbst in die Hand
       nehmen, zeigt sich darin ein tiefes Misstrauen gegenüber institutionellen
       Energiewende-Akteuren. Sie zweifeln einerseits daran, dass die anvisierten
       Ausstiegsszenarien gegenüber mächtigen Konzerninteressen politisch
       umgesetzt werden. Außerdem halten Teile der Bewegung die geplanten
       CO2-Reduktionen für zu unambitioniert, da sie auf ein „wahrscheinlich“
       erreichbares 2-Grad-Ziel pokern, das für Länder des globalen Südens schon
       desaströse Auswirkungen haben wird. Darüber hinaus gibt es den
       grundlegenden Widerspruch gegen den herkömmlichen Energiewende-Begriff, der
       innerhalb einer Logik von Profit und Wachstum bleibt.
       
       Der Beitrag „The sky is the limit“ von Patrick Graichen ist beispielhaft
       für eine Debatte, die auf technologische Innovation fokussiert ist. Vielem,
       was er schreibt, können wir zustimmen. Was er auslässt, ist das Problem. Zu
       einer echten Transformation in der Energieversorgung braucht es eine
       interdisziplinäre Debatte, in der es nicht nur um Elektroautos und Smart
       Grids (intelligente Stromnetze) geht, sondern auch um grundlegende Fragen
       wie: Wollen wir weiterhin das Bruttosozialprodukt als wirtschaftlichen
       Erfolgsmaßstab anerkennen, obwohl darin Waffenexporte, Umweltkatastrophen
       und Krankheiten positiv zu Buche schlagen?
       
       Zu einer echten Energiewende gehört außerdem die Umwälzung von
       Machtverhältnissen: Wer hat Zugriff auf Ressourcen, wer leidet Mangel, und
       wie können wir dieses Verhältnis ändern? Was wollen wir mit unseren
       begrenzten Rohstoffen produzieren: Panzer oder Krankenwagen? Und vor allem:
       Wer entscheidet darüber?
       
       ## Antworten selbst finden
       
       Diese Themen rührt keine Partei an und kaum ein Umweltverband. Darum müssen
       wir diese Fragen selbst beantworten und umsetzen. Praktisch bedeutet das,
       alternative Projekte und Versorgungsstrukturen aufzubauen, in denen
       solidarisch und ökologisch gewirtschaftet wird. Und es bedeutet auch,
       Widerstand zu leisten gegen fossile Konzerne, die sich mit Zähnen und
       Klauen gegen Macht- und Profitverluste wehren.
       
       Die Treiber für Dekarbonisierung sind nicht nur Sonne und Wind. Die Treiber
       sind wir. Es braucht nun eine starke Bewegung, die eine suffizienzbasierte,
       solidarische Energiewende – Klimagerechtigkeit! – erstreitet. Viele
       Menschen, die im August an der Aktion „Ende Gelände“ teilnahmen, waren von
       ihrer eigenen Selbstwirksamkeit berauscht, teilweise auch verdutzt. Sie
       erlebten, wie die gigantischen Braunkohlebagger stillstanden – weil sie es
       so wollten. Zumindest für einen Tag hatten sie den Kohleausstieg
       durchgesetzt.
       
       Die Planungen für weitere Aktionen laufen bereits. Klimabewegte aus ganz
       Europa werden in Paris sein. Nicht um an den dort stattfindenden
       UN-Klimagipfel zu appellieren, sondern um sich mit anderen Aktiven zu
       vernetzen und gemeinsam eine globale Bewegung für Klimagerechtigkeit
       aufzubauen. Motto der Proteste wird sein: „We are the ones we have been
       waiting for“. Auf wen warten wir also noch?
       
       23 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothee Häußermann
       
       ## TAGS
       
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