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       # taz.de -- Aufregung im Internetzeitalter: Im Forum der Einschläferung
       
       > Die Debatte über Xavier Naidoos ESC-Teilnahme zeigt, wie das Plapperorgan
       > Internet den öffentlichen Diskurs zerstört. Das hat schlimme Folgen.
       
   IMG Bild: Aufregung um die ESC-Nominierung: Naidoo bei einem Konzert der „Söhne Mannheims“
       
       Erinnert sich von den Jüngeren noch jemand an Philipp Jenninger? Das war
       ein höherer Funktionär der CDU, der von 1969 bis 1990, per Direktmandat, in
       den Bundestag gewählt wurde. Dieser heute 83-jährige Mann hat nie einen
       Shitstorm durchleben müssen, weil es das Internet als
       Erregungsbeschleunigungsmaschine noch nicht gab. Öffentliche
       Empörungsaufwallung hat er dennoch bewirkt. 1976 riss er bei einer
       Ausstellung mit Plakaten von Klaus Staeck eines der Exponate herunter.
       
       Das wurde ihm noch verziehen. Nicht aber, als er am 10. November 1988 im
       Bundestag, in der Rolle als Bundestagspräsident, zum 50. Jahrestag der
       Reichspogromnacht eine Ansprache hielt. Nicht nur aus heutiger Sicht muss
       man des Politikers Rede eine Performance nennen, die krass enttäuschte.
       Weil er, kurz gesagt, die Stimmung in Nazideutschland wiederzugeben
       versuchte – ohne in direkter Rede kenntlich zu machen, dass er die
       Atmosphäre nur schildere, nicht billige.
       
       Jenninger wurde von den Medien – von linken über liberale bis zu
       konservativen – bezichtigt, die braunen Zeiten irgendwie freundlich zu
       beschwören. Was er nicht getan hatte, aber seine politische Karriere war
       beendet. Dieser inzwischen 27 Jahre zurückliegende Fall ist in Deutschland
       einer der prominentesten der unmittelbaren Zeit vor der Ära des Internets.
       
       Dieses öffentliche Diskutier- und Plapperorgan hat den Diskurs der
       Verächtlichung, der Schmähung, der hemmungsarmen Entwertung nicht geboren,
       aber tüchtig beschleunigt. Zu Jenningers Zeiten gab es die Institution des
       Leserbriefs, des öffentlichen Getuschels, der üblen Nachrede und
       Verunglimpfung. Das Problem, das mit dem Internet einhergeht, hat Folgen
       gezeitigt. Nämlich unangenehme, solche, die eine Verlangweiligung des
       Diskursraumes, der Res publica, mit sich gebracht haben.
       
       Kein*e Politiker*in spricht mehr so, wie sie reden möchten. Freiweg, frisch
       von der Leber, wie es mal volkstümlich hieß. Kein Künstler, niemand
       überhaupt traut sich ernsthaft, ins Idiomatische, ins gewöhnliche Sprechen
       auszuweichen. Künstler*innen sind immer für die gerechte Sache, für das
       Karitative und Herzensgute – vom Imagegewinn gar nicht zu reden, der mit
       wohlfeiler Bekenntnistuerei einhergeht.
       
       Die Währung, in die niemand seinen Ruf eintauschen möchte, ist die des
       Beleidigtseins. Sagt jemand etwas Ungehobeltes, Unsachgemäßes, Krasses,
       Doofes – jedenfalls ungeschützt –, gibt es Reaktionen, die man, Kurt
       Tucholsky leicht variierend, so nennen könnte: Spricht eine*r mal so, wie
       er oder sie ohne Mikros oder sonstige Verstärkerorgane es tut wie alle
       anderen auch, sitzt die halbe Nation auf dem Sofa und nimmt übel.
       
       Insofern darf man ein Sprechen beklagen, das die Arena der Öffentlichkeit
       wie ein Forum der Einschläferung klingen lässt. Überall stehen Opfer und
       Missverstandene und klagen. Über eine internetbasierte Masse, die urteilt
       und richtet, scharfmacht und sich aufheizt.
       
       Einem wie Xavier Naidoo, der es allein schon seines Erfolgs und damit
       finanziellen Polsters wegen nicht mehr nötig hat, alle Worte durch
       Kommunikationsabteilungen wägen zu lassen, wird es scheißegal sein, ob man
       ihm glaubt, mit Reichsbürgern nichts mehr zu schaffen zu haben – allein
       schon, dass er einem christlichen Glauben anhängt, der zwar seltsam
       erscheint, aber sich gegen die Verlautbarungen unserer Amtskirche
       wenigstens wie Jesus und nicht wie Sozialpädagogik anhört, gilt vielen als
       überexzentrisch.
       
       Seine künstlerische Freiheit wurde nicht so weit ausgelegt, dass er zum
       Eurovision Song Contest reisen kann. Alle Kritik an ihm mag berechtigt
       sein, aber dass er als Person nicht ausgehalten würde, dass er nur
       akzeptiert würde, täte er alle Schrullen sich abgewöhnen, ist bedenklich.
       
       Hingen Libertäre nicht immer dem Glauben an, der Sünder könne auch in die
       Gemeinde rückgeführt werden? Dieses Gebot des Anstands scheint suspendiert
       – was zählt, ist das erfolgreiche Blamieren eines anderen. Mäßigung, die
       Kunst der Ent-Erregung zu lernen wäre cool. Philipp Jenningers Rede,
       nebenbei, gilt inzwischen als Meilenstein in der deutschen
       Selbstvergewisserung zur eigenen Nazigeschichte. Er hat Rühmliches versucht
       – und wurde gestrauchelt.
       
       25 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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