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       # taz.de -- Prävention gegen Radikalisierung: Die Frage nach dem Wie
       
       > Die Regierung will verstärkt gegen die Radikalisierung junger Muslime
       > vorgehen. Doch wie kommt man an sie ran, bevor es zu spät ist?
       
   IMG Bild: Anhänger jubeln in der Innenstadt von Frankfurt am Main dem salafistischen Prediger Pierre Vogel zu.
       
       Mainz/Düsseldorf/Berlin taz | Normalerweise gibt Hatice Schmidt
       Beauty-Tipps. Fast 100.000 Zuschauerinnen haben ihren YouTube-Kanal
       abonniert, in den Videos geht es mal um ein dramatisches Augen-Make up, mal
       um den perfekten Einsatz von Puder oder Highlighter. Dieses Mal aber
       behandelt sie ein ganz anderes Thema.
       
       „Hi, Leute“, sagt Hatice Schmidt, lange dunkle Haare, große Brille, „heute
       möchte ich mit euch über den Islam sprechen.“ Von Terrorismus, Salafismus
       und Dschihad sei derzeit viel die Rede, aber das könne doch nicht alles
       sein. Hatice Schmidt, 29 Jahre alt, selbst Muslima, und ihr Comic-Ich
       begeben sich auf die Suche nach der Umma, der islamischen Gemeinschaft. Ihr
       Fazit nach gut drei Minuten Video: Diese Gemeinschaft sei so vielfältig wie
       die Menschheit selbst.
       
       Thomas Krüger hat das Video an die Wand werfen lassen. Der Chef der
       Bundeszentrale für politische Bildung steht an einem Pult im großen Saal
       des Mainzer Schlosses, das Bundeskriminalamt hat zur Herbsttagung geladen.
       600 Gäste sind gekommen, Polizisten, Justizbeamte, Politiker, auch
       Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist dabei und Verfassungsschutzchef
       Hans-Georg Maaßen. Das Thema: Prävention gegen islamistischen Terrorismus.
       
       Am Morgen hat BKA-Chef Holger Münch eine nationale Präventionsstrategie
       gefordert. Es ist der Mittwoch der vergangenen Woche, die Anschläge in
       Paris sind gerade fünf Tage her, am Abend zuvor wurde das
       Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover
       kurzfristig abgesagt. Terrorgefahr.
       
       ## Das Gegenangebot zu Pierre Vogel
       
       Die Bundeszentrale hat Schmidts Video finanziert, als Teil einer ganzen
       Reihe über „Begriffswelten Islam“. [1][Einen Clip über das Kalifat mit dem
       YouTube-Star LeFloid], der fast 3 Millionen Abonnenten hat, gibt es
       bereits. „Jugendliche sollen motiviert und befähigt werden, mündig,
       kritisch und aktiv an den Debatten zum Thema Islam teilzuhaben und sich
       eine eigene Meinung zu bilden“, sagt Krüger. Für ihn ist das eine Maßnahme
       gegen die Ausbreitung extremistischer Ideologie. Und damit wohl auch ein
       Gegenangebot zu Pierre Vogel und dem Verein „Die wahre Religion“, die die
       bekanntesten salafistischen Seiten im Netz betreiben.
       
       Die Täter der Pariser Anschläge sind zum großen Teil Europäer. Junge
       Männer, die in Frankreich und Belgien aufgewachsen sind, sich dort
       radikalisierten. Einige von ihnen zogen in den Dschihad nach Syrien und
       kehrten im Auftrag der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zurück. Gemeinsam
       töteten sie 130 Menschen und verletzten viele weitere schwer. Ein Anschlag,
       da sind sich die Sicherheitsbehörden einig, könnte auch in Deutschland
       geschehen.
       
       Deshalb schauen sie mit Sorge auf die sogenannten islamistischen Gefährder,
       auf die Ausreisen mit dem heiligen Krieg und die Rückkehrer. Und auf die
       salafistische Szene, die stetig wächst. Auch, wenn nicht alle Salafisten
       gewaltbereit sind. Dort, wo ein vermeintlich ursprünglicher Islam gepredigt
       wird, liegt das Rekrutierungspotenzial der Dschihadisten. Die Frage ist:
       Wie kommt man an diese Leute ran, bevor es zu spät ist?
       
       Den Sicherheitsbehörden ist inzwischen klar: Um Anschläge zu verhindern und
       den Salafisten ihre Attraktivität für junge Menschen zu nehmen, braucht es
       mehr als Polizei und Justiz. Vielleicht können ja Videoclips zumindest
       einen kleinen Beitrag leisten, und zwar schon zu einem Zeitpunkt, in dem
       der Terror noch weit entfernt scheint.
       
       ## Wie viele Projekte es gibt, kann niemand sagen
       
       Vierzehn Jahre nach 9/11 steht die Prävention gegen islamistische
       Radikalisierung in Deutschland noch am Anfang. Eine Gesamtstrategie gibt es
       nicht, stattdessen einen Flickenteppich an Angeboten, weitgehend
       unkoordiniert, oft schlecht finanziert und überfordert.
       
       Wie viele Projekte es bundesweit gibt, kann niemand sagen. Einige wenige
       bekommen Geld vom Bundesinnenministerium, deutlich mehr aus dem
       Jugendressort. Die Prävention in Deutschland, urteilt der renommierte
       Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College, sei „Kraut
       und Rüben“.
       
       „Es wurde viel Zeit vertan“, sagt die Kriminalistin Wiebke Steffen. Der
       salafistische Prediger Pierre Vogel füllte bereits öffentliche Plätze,
       junge Männer zogen von Deutschland aus in den Dschihad, aber viele
       Politiker verkannten oder ignorierten die Gefahr. Bei den Ursachen der
       Radikalisierung stochere man noch immer im Nebel, so Steffen, und die
       Arbeit sei oft „wenig professionell“. Dabei ist in der Prävention die
       Gefahr groß, durch Fehler das Problem zuzuspitzen.
       
       Erst im vergangenen Jahr haben die ersten Bundesländer Präventionsprogramme
       aufgelegt, Hessen etwa und Nordrhein-Westfalen. Einige Kommunen engagieren
       sich, manche erst, nachdem viele junge Männer und Frauen von dort nach
       Syrien ausreisten.
       
       ## Drei Stufen der Prävention
       
       Prävention findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Experten
       unterscheiden zwischen der universellen Prävention, die sich wie die Videos
       der Bundeszentrale an keine bestimmte Gruppe richtet. Das Ziel: sie
       gegenüber radikalen Ideologien zu sensibilisieren. Die zweite Stufe, die
       selektive Prävention, zielt auf jene, die bereits ein Risiko aufweisen, bei
       der dritten Stufe spricht man von Deradikalisierung.
       
       Ufuq ist ein Träger aus Berlin-Neukölln, den zwei Islamwissenschaftler 2007
       gegründet haben. Sein Ziel: nicht mehr über die „Einbürgerung des Islam“
       diskutieren, sondern diese gestalten. Inzwischen wird Ufuq – „Horizont“ auf
       Arabisch – bundesweit als Ansprechpartner für die pädagogische Arbeit zu
       den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus geschätzt – und rege
       angefragt. Meist kommen die E-Mails oder klingelt das Telefon, wenn es
       Probleme gibt.
       
       Wie wollen wir leben?, lautet die Leitfrage, mit der Ufuq-TeamerInnen, oft
       selbst mit muslimischem Hintergrund, in Schulklassen oder
       Jugendeinrichtungen gehen. Je nach Zusammensetzung der Jugendlichengruppe
       wird das Konzept modifiziert. Filme zu Themen wie Scharia und Grundgesetz,
       Islamfeindlichkeit oder Geschlechterrollen stoßen die Diskussion an. Wie
       wollen Mädchen und Jungen zusammenleben? Ist es richtig, dass Mädchen
       weniger dürfen als Jungen? Und welche Rolle spielt dabei die Religion? Über
       solche Fragen wird dann diskutiert.
       
       „Wir geben den Jugendlichen Raum, über ihre Vorstellungen von
       Zugehörigkeit, Identität und Religion zu sprechen“, sagt Götz Nordbruch,
       einer der beiden Ufuq-Gründer. Das seien Fragen, die viele umtreiben – und
       auf die sie oft keine Antworten fänden. Weder bei den Eltern noch in der
       Moschee oder der Schule. „In Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen sind
       viele Lehrer nicht bereit, religiöse Themen aufzugreifen, weil sie eine
       klare Trennung zwischen Schule und Religion wollen“, sagt Nordbruch. Doch
       die Jugendlichen beschäftige der Islam, und zwar oft gar nicht, weil sie
       religiös seien, sondern als Frage ihrer Identität. Jugendliche, die sich
       damit auseinandersetzen, sagt Nordbruch, seien weniger anfällig für die
       einfachen Weltbilder der Salafisten.
       
       ## Benachteiligung? Diskriminierung? Fehlende Bildung?
       
       Lange musste sich Ufuq von Projekt zu Projekt hangeln, immer in Sorge um
       die weitere Finanzierung. Seit diesem Jahr bekommt der Verein – wie 26
       andere Träger – strukturelle Förderung aus dem Bundesjugendministerium.
       Fünf Jahre lang. „Ein echte Erleichterung“, sagt Nordbruch.
       
       Insgesamt gibt das Ministerium im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“
       in diesem Jahr 5,8 Millionen Euro für Prävention gegen islamistischen
       Extremismus aus, in den Jahren zuvor waren es durchschnittlich 2 Millionen.
       Im kommenden Jahr werden es 7,5 Millionen Euro sein.
       
       Ufuq, so der Arbeitsauftrag, soll wissenschaftliche Erkenntnisse in die
       pädagogische Praxis überführen. Allerdings sind diese rar gesät. Michael
       Kiefer ist Islamwissenschaftler an der Uni Osnabrück, seit vielen Jahren
       ist er sowohl in der Wissenschaft als auch in der Jugendarbeit aktiv.
       Letztlich, sagt er, wisse man wenig darüber, wie islamistische
       Radikalisierung wirklich ablaufe – und wo Prävention sinnvoll ansetzen
       kann. „Da gibt es viele ungedeckte Behauptungen, nur wenig ist
       wissenschaftlich wirklich belegt.“ Dann zählt er auf: soziale
       Benachteiligung? Diskriminierung? Fehlende religiöse Bildung? Das könne
       alles eine Rolle spielen. Für jeden dieser Faktoren lassen sich aber auch
       Gegenbeispiele finden.
       
       Das Jugendministerium fördert jetzt einen Forschungsverbund, an dem das
       Institut für Islamische Theologie an der Uni Osnabrück, das Institut für
       Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld und
       das Deutsche Jugendinstitut beteiligt sind. Wie radikalisieren sich
       Menschen? Wie kann dieser Prozess unterbrochen oder gar umgedreht werden?
       Solchen Fragen wollen sie nachgehen. Die Bielefelder um Professor Andreas
       Zick untersuchen dafür Gerichtsakten. Die Osnabrücker, darunter Kiefer,
       befragen Leute aus Dinslaken-Lohberg, die sich entweder selbst
       radikalisiert haben oder mit Radikalisierten verwandt oder befreundet sind.
       Und das Deutsche Jugendinstitut macht Interviews. Die ersten Ergebnisse
       sollen im Frühjahr 2017 vorliegen.
       
       Ufuq hat inzwischen zehn Mitarbeiter auf sechseinhalb Stellen, gerade hat
       der Träger ein zweites Büro in Augsburg eröffnet, von dort sollen im
       Auftrag der bayerischen Landesregierung Einrichtungen vor Ort beraten und
       vernetzt werden: Schulen und Jugendeinrichtungen, aber auch
       Wohlfahrtsverbände und die Polizei. Dabei gehe es nicht nur um die Arbeit
       mit jungen Leuten, sondern auch um Veränderungen in den Institutionen
       selbst, sagt Nordbruch.
       
       ## „Ich bin kein Salafist mehr“
       
       Dominic Schmitz, 28, graues Sweatshirt, gegelte Haare, gestutzter
       Backenbart, ist nicht im Auftrag eines staatlich geförderten Trägers
       unterwegs, sondern in eigener Mission. Er guckt direkt in die Kamera,
       hinter ihm hängt ein schwarz-weißes Fotoposter mit dem immer gleichen
       Frauenmund an der Wand, nur die Lippen sind in verschiedenen Knallfarben
       geschminkt. [2][“Ich bin kein Salafist mehr“, sagt Schmitz ruhig in dem
       YouTube-Video, „aber ich bin immer noch Muslim.“] Seinen Glauben, sein
       Denken, sein Handeln, all das wolle er sich nicht mehr von Anderen
       vorschreiben lassen.
       
       Schmitz ist mit 17 zum Islam konvertiert und als Musa Almani schnell in die
       salafistische Szene gerutscht. Er war die rechte Hand des Predigers Sven
       Lau, der wie er aus Mönchengladbach stammt. Mit Pierre Vogel ist Schmitz
       nach Mekka gepilgert. Es gibt ein Video, in dem Vogel ihn zu seiner
       Konversion befragt, ins Netz gestellt als Beleg der erfolgreichen
       Missionsarbeit. Schmitz trägt ein traditionelles Gewand und eine
       Gebetsmütze, er ist gerade 18 Jahre alt. „Ich bin so glücklich wie noch nie
       in meinem Leben“, sagt er.
       
       „Ich hab Antworten gegeben wie auswendig gelernt“, so sieht es Schmitz
       heute.
       
       Er warnt nun mit YouTube-Clips vor seinen alten Gefährten. Seine Videos
       sind eine Mischung aus Predigt und Pop. Mal spricht er nüchtern, mal rappt
       er, mal verkleidet er sich, um in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Er
       weiß, was die Salafisten so attraktiv für junge Leute macht: die
       Orientierung, die Gemeinschaft, der Sinn, das Gefühl, besser zu sein. „Das
       hat mich sehr erhöht“, sagt er. „Ich hatte damals wenig Selbstbewusstsein.“
       
       ## Leute, lasst das sein!
       
       Irgendwann aber habe er sich „wie ein Roboter gefühlt“. Langsam hat er sich
       dann von der Szene gelöst. Einer der Schlüsselmomente dabei: als einer
       seiner Freunde nach Syrien in den Dschihad zog. Gewalt passt für ihn nicht
       zum Islam. Schmitz tritt auch auf Fortbildungen für PädagogInnen und in
       Schulklassen auf. Ein Glücksfall für die Prävention.
       
       Ein echter Joker sind Aussteiger, die noch weiter gegangen sind als
       Schmitz. Ein verurteilter Extremist etwa, der in der Szene glaubwürdig ist
       und sagt: Leute, lasst das sein! Ich hab da einen schweren Fehler gemacht.
       In England gibt es solche Aussteiger bereits, in Deutschland hat man mit
       Nazi-Aussteigern gute Erfahrungen gemacht, nach einem islamistischen suchen
       die Sicherheitsbehörden seit Langem. Ebrahim B., der derzeit in Celle vor
       Gericht steht, könnte ein solcher Joker werden.
       
       B., 26, ist einer von mindestens 20 jungen Männern, die seit 2013 von
       Wolfsburg nach Syrien ausgereist sind. Ein Anwerber des IS hatte sie
       rekrutiert.
       
       B. soll sich laut Anklage von Anfang Juni bis Ende August 2014 dem
       „Islamischen Staat“ angeschlossen haben und bereit gewesen sein, als
       Selbstmordattentäter zu sterben. Irgendwann aber setzte er sich ab. Direkt
       nach seiner Festnahme will B. angeboten haben, gegen den IS auszusagen.
       Noch vor Prozessbeginn hat er Journalisten ein Interview gegeben, die ARD
       hat es ausgestrahlt. B. ist der erste Rückkehrer, der öffentlich und
       ausführlich über seine Zeit bei der Terrorgruppe spricht, von der
       Gewalttätigkeit und Grausamkeit des IS berichtet. Er wolle andere davon
       abzuhalten, sich dem IS anzuschließen, sagt B. Vermutlich erhofft er sich
       auch eine geringere Strafe. Das Urteil soll Ende des Jahres fallen.
       
       ## Dezentrale Organisation der Präventionsarbeit
       
       Kiefer, der Islamwissenschaftler aus Düsseldorf, würde sich freuen,
       jemanden wie B. für seine Arbeit zu gewinnen. Wichtiger für ihn ist aber
       die Art und Weise, wie die Präventionsarbeit organisiert ist: dezentral, so
       wie „Wegweiser“, das nordrhein-westfälische Programm. Kiefer ist im
       Vorstand von Wegweiser Düsseldorf, einem der ersten vier Standorte, an vier
       weiteren wird derzeit gearbeitet. „Du musst die Akteure vor Ort kennen,
       damit es funktioniert“, sagt er.
       
       In Fortbildungen versorgt Wegweiser Lehrer und Sozialarbeiter mit dem
       notwendigen Wissen und dem Handwerkszeug. Fällt den Pädagogen bei einem
       Jugendlichen etwas auf, können sie sich an die Beratungsstelle wenden.
       „Manche Lehrer reagieren lange gar nicht, andere gleich sehr hysterisch“,
       sagt Kiefer.
       
       Am Anfang müsse also eine solide Recherche stehen: Was ist wirklich
       passiert? Hat sich das Verhalten des Jugendlichen verändert? Ist es eine
       besorgniserregende Entwicklung? Kiefer und seine Kollegen beraten,
       durchführen müssten den Prozess aber die jeweiligen LehrerInnen und
       SozialarbeiterInnen. „Prävention muss Teil des regulären pädagogischen
       Handelns werden“, sagt Kiefer.
       
       Liegt bereits eine Radikalisierung vor, steigen die Fachleute von Wegweiser
       stärker ein. Einbezogen werden stets alle, die notwendig sind: Eltern und
       Geschwister, Lehrer und Sozialarbeiter, Freunde, der Fußballtrainer, der
       Imam. Die Sicherheitsbehörden? „Nur, wenn es um Straftaten geht“, so
       Kiefer.
       
       ## Alternativen anbieten
       
       Vieles davon sei klassische Sozialarbeit, die von Profis gemacht werden
       müsse, sagt Kiefer. „Das ist nichts für Amateure, da hast du schnell viel
       falsch gemacht und damit die Entwicklung verstärkt.“ Ein Beispiel: An einer
       Schule haben Schüler Flyer verteilt, wie sich muslimische Jungen und
       Mädchen zu kleiden und zu verhalten haben. Manchen ihrer MitschülerInnen
       passte das nicht. Irgendwann kamen die Schüler im traditionellen Gewand und
       mit Gebetsmützen, was die Schulleitung ihnen untersagte. Das Ergebnis: Die
       Schüler, die die Jungen vorher kritisiert hatten, unterstützten sie jetzt.
       Sie hatten das Gefühl, die Schule wende sich gegen den Islam. Die Schule
       erreichte also das Gegenteil von dem, was sie wollte.
       
       „Wenn du jemanden aus der Szene rauslösen willst, musst du Angebote
       machen“, sagt Kiefer. „Der verliert mit einem Schlag sein bisheriges Leben
       und wahrscheinlich alle seine Freunde.“ Es ist eine intensive Arbeit, bei
       der eine Bindung entstehen muss. Der Sozialarbeiter trifft sich über Monate
       zwei- bis dreimal in der Woche mit dem Betroffenen, Kollegen helfen bei der
       Suche nach einer Wohnung oder einem Ausbildungsplatz.
       
       Das Violence Prevention Network (VPN) ist einer der großen Player in der
       Islamismus-Prävention, 50 feste MitarbeiterInnen, dazu freie. Thomas Mücke
       ist einer der beiden Geschäftsführer. Der 56-Jährige, ein hochgewachsener
       Mann mit kahlem Schädel, weiß, wovon er spricht. Seit 1989 arbeitet er mit
       radikalisierten Jugendlichen, zunächst mit Rechtsextremen, seit 2007 auch
       mit Islamisten.
       
       Bei der bundesweiten Hotline für Angehörige, die seit 2012 beim Bundesamt
       für Migration und Flüchtlinge geschaltet ist und vom Innenministerium
       bezahlt wird, ist VPN eine der vier Beratungsstellen, an die die
       Anruferinnen und Anrufer weitervermittelt werden.
       
       Menschen wie Marlies Peter, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie hatte
       schon lange Veränderungen bei ihrem 16-jährigen Sohn beobachtet. Erst
       konvertierte er zum Islam, dann zog er sich von seinen Freunden zurück,
       immer häufiger war er auf islamistischen Websites unterwegs. Mit der Mutter
       gab es zunehmend Streit. Als er eines Tages verschwunden war, rief Peter
       bei der Hotline an. Sie fürchtete, ihr Sohn könne nach Syrien ausgereist
       sein. „Das ist ein ganz typischer Fall“, sagt Mücke, der die Geschichte der
       Peters leicht verändert erzählt, damit sie nicht identifizierbar ist.
       
       ## Die Rückkehr ins normale Leben
       
       VPN übernahm die Betreuung der Familie. Irgendwann meldete sich der Sohn
       aus Syrien, er war fertig, wollte zurück. Gemeinsam mit den Eltern plante
       VPN jeden Schritt. Der Junge floh schließlich in die Türkei, wo die Eltern
       ihn abholten. Jetzt arbeitet VPN daran, ihn von extremistischer Ideologie
       und Gewaltbereitschaft abzubringen, seine Zweifel an dem geschlossenen
       Weltbild der Salafisten zu verstärken. Das Ziel: die Rückkehr ins normale
       Leben.
       
       Eine Stelle für die Angehörigenarbeit wird vom Bundesinnenministerium
       finanziert, sie soll von Frankfurt aus den ganzen Südwesten der Republik
       abdecken. Der Bremer Verein Kitab ist mit zwei halben Stellen für ganz ganz
       Norddeutschland zuständig.
       
       Insgesamt 136 Angehörige hat VPN in diesem Jahr betreut, jede Woche kommen
       neue Fälle hinzu. Machbar sei das nur, sagt Mücke, weil VPN seit dem
       vergangenen Jahr in Hessen zugleich das „Präventionsnetzwerk gegen
       Salafismus“ betreibe.
       
       Seitdem machen die Mitarbeiter alles vom Schulworkshop bis zur
       Deradikalisierungsarbeit mit verurteilten Syrienrückkehrern im Gefängnis.
       In diesem Jahr hat VPN auch das Berliner Landesprogramm übernommen, Bayern
       und Baden-Württemberg könnten bald folgen. Findet man bei einer so
       schnellen Expansion überhaupt genug geeignetes Personal? Mücke nickt. Dank
       der langjährigen Erfahrung sei VPN gut vernetzt. Andere sind da
       skeptischer. Beim Verein Ufuq etwa heißt es, es sei derzeit schwierig,
       geeignete BewerberInnen für eine freie Stelle zu finden.
       
       Wie Kiefer und Nordbruch hält auch Mücke von einer nationalen
       Präventionsstrategie nicht viel, notwendig aber sei ein Fachaustausch auf
       Bundesebene. Und zwar dringend. Mücke weiß: Beim Kampf gegen den
       Rechtsextremismus dauerte es über zehn Jahre, bis man von einer
       funktionierenden Prävention sprechen konnte. Diese Zeit haben wir jetzt
       nicht.
       
       29 Nov 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=1D0j70BwjbM
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=wDr7CuXwTFY
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine am Orde
       
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       Ausbildung.
       
   DIR IS-Sympathisant an Uni Darmstadt: Doktorand wirbt für Terrormiliz
       
       In einem Video spricht ein Darmstädter Mathe-Doktorand über Syrien und den
       Irak. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den IS unterstützt.
       
   DIR Mutmaßlicher Islamist vor Gericht: Im Terror-Sturmtrupp des IS
       
       Der Angeklagte aus Dinslaken soll 2013/2014 als Teil der „Lohberger
       Brigade“ in Syrien im Einsatz gewesen sein, als Mitglied einer IS-internen
       Sicherheitspolizei.
       
   DIR Drohungen in Belgien: Terrorverdächtiger festgenommen
       
       Bei einer Razzia in Brüssel ist ein 22-Jähriger in Haft genommen worden.
       Ihm werden laut Staatsanwaltschaft „terroristische Morde“ vorgeworfen.
       
   DIR Festnahme wegen Terrorverdachts: Salafist Sven Lau hinter Gittern
       
       Nach einem Haftbefehl griffen die Polizisten zu. Der bekannte deutsche
       Salafistenprediger Sven Lau soll eine terroristische Vereinigung
       unterstützt haben.
       
   DIR Syrienrückkehrer verurteilt: Nächstes Mal lieber Mallorca
       
       Zwei Deutsch-Tunesier waren mehrere Monate in Syrien beim „Islamischen
       Staat“. Ein Celler Gericht verurteilte sie zu mehrjährigen Haftstrafen.
       
   DIR Radikalisierung: „Sie fühlten sich abgelehnt“
       
       Der Bremer Kriminalwissenschaftler Daniel Heinke erforscht, wie Terroristen
       sich in Deutschland radikalisieren.
       
   DIR Anti-Terrormaßnahmen des BKA: Wir müssen mit ihnen reden
       
       Um eine Radikalisierung zu verhindern, brauche man Präventivmaßnahmen. Das
       ist der neue Kurs des Bundeskriminalamtes.
       
   DIR Entstehung nationalistischer Bewegungen: Sie brauchen den Hass
       
       Pegida, AfD, NPD: Rechte Bewegungen und Parteien haben starken Zulauf, weil
       sie klare Feindbilder und einfache Lösungen bieten.