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       # taz.de -- Motive der Pariser Attentäter: Was machte sie zu Massenmördern?
       
       > Die meisten Täter der Pariser Anschläge sind identifiziert, ihre
       > Beweggründe werden klarer. Geeint hat sie die Geltungssucht ihres
       > Anführers.
       
   IMG Bild: „Paris – erschüttert, aber nicht gesunken“, das ist die Bedeutung dieses Grafittis.
       
       Paris taz | Auf Twitter werden mit dem Hashtag [1][#Enmémoire] (Zum
       Gedenken) weiterhin einzeln oder gruppenweise die Fotos der Attentatsopfer
       von Paris publiziert. An sie wollen wir uns erinnern, auch wenn es wehtut.
       Doch an die Täter? Zuerst waren sie in vielen Medien als anonyme Monster,
       als unheimliche Silhouetten wie dunkle Schattenrisse mit einem Fragezeichen
       abgebildet worden. Später wurden die meisten Täter identifiziert.
       
       Die Barbarei bekam Gesichter und Lebensläufe. Verständlicher wurde dieser
       Massenmord deswegen nicht.
       
       Nicht in jedem Fall weiß man mit Sicherheit, welche Begegnung mit einem
       Hassprediger irgendwann den Ausschlag gegeben haben muss und den Beginn
       eines Abdriftens in die Einbahnstraße des tödlichen Fanatismus darstellte.
       Nichts – weder ihre Herkunft, ihre individuelle Geschichte oder ihre
       Betroffenheit durch kollektive soziale, kulturelle, postkoloniale oder
       religiöse Diskriminierungen – kann auch nur ansatzweise als Entschuldigung
       oder mildernder Umstand betrachtet werden. Ebenso unverantwortlich sind die
       „Kurzschlüsse“ bei der pauschalen Schuldzuweisung, wenn beispielsweise
       radikaler Islamismus und Islam leichtfertig in einen Topf geworfen werden.
       
       Wie so oft finden sich im Lebenslauf dieser jungen fanatisierten
       Terroristen, die als Kanonenfutter für den „Dschihad“ dienten, bereits
       bekannte Schemata: Dazu gehört eine schwere Jugend in einer kinderreichen
       und meist nicht sehr gläubigen muslimischen Immigrantenfamilie aus Algerien
       oder Marokko in einem perspektivlosen Vorort der französischen „Banlieue“.
       Dazu gehört Schulversagen, erste Delikte und Aufenthalte auf dem
       Polizeiposten oder im Gefängnis.
       
       ## Plötzlich und unbemerkt radikalisiert
       
       So sieht in etwa auch bei den Antiterrorbehörden das klassische Profil der
       Jungen aus, die sich aus unterschiedlichsten Gründen und Umständen
       plötzlich und oft auch völlig unbemerkt radikalisieren. Gibt es überhaupt
       Gemeinsamkeiten in der Vorgeschichte der Täter, außer der Tatsache, dass
       alle am Ende bereit waren, sich vom mutmaßlichen Drahtzieher Abdelhamid
       Abaaoud für einen terroristischen Massenmord in Frankreich rekrutieren zu
       lassen?
       
       Schon von den Attentätern, die Mitte der 90er Jahre im Namen des
       algerischen GIA mit Bomben in Verkehrsmitteln Frankreich terrorisierten,
       sprach man von einem neuen Lumpenproletariat. Im Dschihad fanden sie eine
       Form der Revolte gegen ein System, das ihnen keinen gebührenden Platz und
       keine Zukunft gewährte.
       
       Dem Profil jener, die gesellschaftlich marginal, mehrfach straffällig
       geworden, voller Hass und manipulierbar sind, entsprach auch Omar Ismael
       Mostefai, einer der Mörder im Bataclan. Er kam im Vorort Courcouronnes auf
       die Welt. Wie andere Jungen seines Alters in diesen Siedlungen war er der
       Polizei wegen kleiner Delikte und Drogenbesitz bekannt. Zwischen 2004 und
       2010 wurde er acht Mal verurteilt, musste aber nie ins Gefängnis. 2010 gab
       er seinen Job in einer industriellen Bäckerei auf und zog mit seinen Eltern
       und Geschwistern nach Chartres um. Die ganze Familie galt als
       strenggläubig, der aus Algerien eingewanderte Vater trägt eine Dschellaba,
       die aus Portugal stammenden Mutter und die Töchter tragen den Schleier.
       
       ## Seit Jahren überwacht
       
       Der Jüngere der Mostefai-Brüder in Chartres aber zählte zu einer kleinen
       Gruppe von Salafisten, die von einem Veteranen des Dschihad fasziniert
       waren: Der Hassprediger Abdelilah Ziyad war wegen eines Attentats auf das
       Hotel Atlas Asni in Marrakesch zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden.
       Er sagt heute, mit dem Terrorismus habe er nichts (mehr) zu tun.
       
       Der Name Ismael Omar Mostefai stand seit fünf Jahren bei den
       Staatsicherheitsbehörden in der Datei mit dem Buchstaben S (für
       „Surveillance“, Überwachung) der mittlerweile 10.000 Personen in
       Frankreich, die wegen Sympathien für Terrorismus als potenziell gefährlich
       gelten. Besonders überwacht wurde er nicht. Er konnte vermutlich zweimal
       nach Syrien reisen und unbehelligt zurückkehren. Bei seiner ersten Reise
       war Mostefai in Begleitung von Samy Amimour, der dann an seiner Seite im
       Bataclan schoss und sich in die Luft sprengte. Samys zunächst heimliche
       Radikalisierung gibt immer noch Rätsel auf. Er wuchs in Drancy im Norden
       von Paris in geordneten Verhältnissen auf. Seine aus Algerien stammenden
       Eltern waren nicht praktizierende Muslime, seine Mutter war im Quartier
       wegen ihres feministischen Engagements besonders beliebt.
       
       Der junge Samy macht seinen Mittelschulabschluss, ist laut ehemaligen
       Kameraden ein „lustiger Typ“. Nach der Scheidung der Eltern bemerkte Samys
       Vater allerdings höchst erstaunt, dass sein Sohn, der bis dahin kein Wort
       Arabisch konnte, auf dem Internet Gebete angehört habe. Im engen
       Familienkreis verwandelte sich Mutters Liebling vermutlich unter dem
       Einfluss der Internetpropaganda radikaler Islamisten in einen Tyrannen, der
       die Schwester zwingen wollte, den Schleier zu tragen.
       
       2012 hängte er seinen Job als Busfahrer an den Nagel. Er versuchte
       vergeblich, nach Jemen zu reisen. Samy Amimour war nun in der S-Kartei
       registriert, musste sich einer polizeilichen Kontrolle unterziehen und
       seinen Pass abgeben, was ihn aber nicht hinderte, nach Syrien zu reisen.
       Dort konnte sein Vater ihn kurz besuchen – und traf einen völlig
       veränderten Sohn an. Der Versuch, ihn zu einer Heimkehr zu überreden,
       scheiterte.
       
       ## Von Drogen zum Islamismus
       
       Auch der in Belgien in einem Vorort von Brüssel lebende Bilal Hadfi, der
       sich beim Stade de France als jüngstes Mitglied des Terrorkommandos am 13.
       November mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagte, verbrachte Stunden
       vor dem Bildschirm. Unter dem Namen Billy the Hood sah man ihn auf
       Facebook-Fotos, wie er sich bei Partys am Rand eines Pools mit Kiffen und
       Alkohol amüsierte. Bei einem kurzen Gefängnisaufenthalt wegen Drogen lernte
       er Abdelhamid Abaaoud kennen.
       
       Diese Begegnung hatte Folgen. Seine Mutter war zuerst sehr erleichtert, als
       er danach die häufigen Joints durch fünf Gebete am Tag ersetzte. In den
       Netzwerken posierte Hadfi jetzt ernst, mit einem Bärtchen und mit Waffen.
       Im Februar 2015 setzte er sich nach Syrien ab, um sich der Gruppe um
       Abaaoud anzuschließen.
       
       Die in Paris geborenen Brüder Salah und Ibrahim Abdeslam, die am 13.
       November aus Kalaschnikows auf die Leute vor Cafés und Restaurants
       schossen, waren ebenfalls seit ihrer Jugend in Molenbeek Bekannte des
       belgischen Terroristenchefs Abaaoud.
       
       Andere Freunde und Bekannte der Brüder sagen nachträglich, sie hätten
       gewusst, dass beide radikale Ideen gehabt hätten – aber niemals wären sie
       auf den Gedanken gekommen, dass diese Brüder, deren leichtfertiger
       Lebenswandel alle kannten, sich in islamistische Terroristen verwandelten.
       
       ## Wo die Fäden zusammenlaufen
       
       Der Ältere, Ibrahim, war wegen Haschisch mit dem Gesetz in Konflikt
       geraten, seine Bar Les Béguines war einige Monate vor den Attentaten wegen
       Drogenhandels geschlossen und verkauft worden. Er galt als instabil und
       gewalttätig: Mit 14 steckte er die Wohnung der Familie in Brand. Und 2012
       griff er einen Vizebürgermeister tätlich an, weil die Familie Abdeslam aus
       einer Sozialwohnung ausziehen musste.
       
       Auch der Jüngere, der weiterhin flüchtige Salah, hatte sich diverse
       Drogendelikte zuschulden kommen lassen. Zudem wurde aber gegen ihn wegen
       eines Banküberfalls mit dem bereits bekannten Dschihadisten Abaaoud
       ermittelt.
       
       Alle Fäden laufen also bei Abdelhamid Abaaoud zusammen, der kurz nach dem
       Massaker von Paris bei einer Polizeirazzia in Saint-Denis starb. Ihm
       genügte zweifellos die ihm vom Vater vorgegebene Karriere als Inhaber eines
       Kleidergeschäfts in Molenbeek nicht. Schon bevor er die Anschläge von Paris
       organisiert hatte, wussten alle Terroristenfahnder, wie gefährlich dieser
       junge Mann war, der für den „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien zusammen mit
       den aus La Réunion stammenden Brüdern Fabien und Jean-Michel Clain die
       rekrutierten Franzosen und Belgier befehligte.
       
       Es gibt nur wenig Hinweise, die seine Radikalisierung erklären. Aus den
       unmaskierten Auftritten in der IS-Propaganda ist aber zu entnehmen, wie
       geltungssüchtig Abaaoud war. Es amüsierte ihn offensichtlich, die
       Überwachung auszutricksen und trotz eines internationalen Haftbefehls
       mehrmals nach Belgien zurückzukommen, um dort mit seinen Sympathisanten
       mehrere Anschläge zu planen.
       
       In der Rolle des Staatsfeinds Nummer 1 scheint er eine ihm angemessene
       Rolle gefunden zu haben. Er zögerte nicht, seinen erst 13-jährigen Bruder
       Younes für die Terrormiliz als Killer zu rekrutieren und zuletzt auch noch
       seine Cousine Hasna Aitboulahcen in den unausweichlichen Tod zu schicken.
       
       Welche Bedeutung hatte dabei eine religiös-ideologische Motivation? In den
       meisten Fällen war die Indoktrination durch Hassprediger und die
       Internetpropaganda eine Schnellbleiche, die laut den Religionsexperten mit
       einem echten Studium des Islam kaum etwas gemein hat. Dafür aber spielt die
       Unterordnung unter die Disziplin einer Organisation wie den IS eine
       zentrale Rolle. Einen Weg zurück gibt es nicht, der Tod scheint für die
       Mitglieder dieser apokalyptischen Sekte nicht ein Risiko, sondern das Ziel
       zu sein. Für Außenstehende ist es nicht nachvollziehbar.
       
       30 Nov 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/hashtag/enm%C3%A9moire?lang=de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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