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       # taz.de -- Thüringens VS nach dem NSU-Debakel: „Wir sind nicht James Bond“
       
       > Mit Stephan Kramer bekommt der thüringische Verfassungsschutz einen neuen
       > Chef und einen neuen Auftrag - mehr Transparenz.
       
   IMG Bild: „Mit mir wird es keine Kosmetik geben“, sagt Stephan Kramer
       
       Berlin taz | Stephan Kramer hat eine kleine Antrittsrede vorbereitet. Am
       Dienstagmorgen wird er sie vortragen, in einem grauen, hässlichen
       Betonklotz am Stadtrand von Erfurt – dem Sitz des Thüringer
       Verfassungsschutzes. Es wird Kramers erster Tag als Präsident des Amtes
       sein, die erste Begegnung mit seinen 96 Bediensteten. Und die werden genau
       zuhören.
       
       In Kramers Manuskript dürfte häufiger das Wort „neu“ auftauchen. Schon
       mehrfach sagte der 47-Jährige öffentlich, es brauche jetzt einen
       „Neustart“, einen „neuen Geist“, einen „ganz neuen Verfassungsschutz“. Es
       wird spannend, wie laut der Applaus der Belegschaft ausfällt.
       
       Kramers Ernennung, sie ist ein Coup der rot-rot-grünen Regierung in
       Thüringen. Der Berliner, studierter Jurist ohne Abschluss, war lange
       Generalsekretär des Zentralrats der Juden, ein Linker und Lautsprecher,
       immer bereit für eine steile These. Seine Geheimdiensterfahrung: keine.
       Stattdessen warf Kramer dem Verfassungsschutz nach dem NSU vor, dort werde
       weiter „vertuscht, beschönigt und geschreddert“. Er also wird nun dessen
       Präsident in Thüringen.
       
       ## Dreijährige Vakanz
       
       Bei der Verbrechensserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ wurde
       der Thüringer Verfassungsschutz zum Sinnbild des Staatsversagens. Unter
       dessen Augen radikalisierten sich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe
       Böhnhardt und tauchten unter. Der Verfassungsschutz führte etliche V-Leute
       in ihrem Umfeld – trotzdem blieb das Trio fast 14 Jahre unentdeckt und
       ermordete mutmaßlich zehn Menschen. Der Thüringer
       NSU-Untersuchungsausschuss stellte dem Amt ein vernichtendes Zeugnis aus:
       Dessen Fehler ließen „gezielte Sabotage“ vermuten und seien ein „einziges
       Desaster“. Der damalige Präsident Thomas Sippel musste gehen. Sein Posten
       blieb vakant, dreieinhalb Jahre. Bis jetzt, zu Kramers Ernennung.
       
       Seit dem NSU-Debakel ist die Forderung nach einer Reform des
       Verfassungsschutzes politischer Konsens, von der Linken bis zur CDU. Nur
       wie, das bleibt bis heute strittig. Weist Thüringen, weist Stephan Kramer
       den Weg?
       
       Kramer sitzt wenige Tage vor seinem Dienstantritt in einem Café in
       Berlin-Kreuzberg, trinkt schwarzen Kaffee ohne Zucker. Er hat wenig Zeit,
       wie immer. „Mit mir wird es keine Kosmetik geben“, sagt er. Dem
       Verfassungsschutz stehe ein „Paradigmenwechsel“ bevor. Es gehe auch um
       seine Glaubwürdigkeit. „Und die werde ich nicht aufs Spiel setzen.“
       
       ## Die Reformagenda
       
       Kramers Reform hat bisher drei Punkte. Erstens soll der Geheimdienst
       offener werden, viel offener. „Wir sind nicht James Bond, wir brauchen
       keine unnötige Geheimniskrämerei mehr.“ Zweitens soll das Amt enger an die
       Zivilgesellschaft rücken: Kramer will mit Vereinen und Wissenschaftlern
       Informationen austauschen, gemeinsame Symposien abhalten. Und drittens, das
       Wichtigste: Der Verfassungsschutz soll neue Köpfe bekommen – Polizeikenner,
       Sozialwissenschaftler, Religionsexperten. Quereinsteiger, keine klassischen
       Geheimdienstler. Leute wie Kramer.
       
       Nur: Geht das überhaupt, eine neue, bunte Offenheit, mit einem
       Nachrichtendienst? Schon der Punkt mit dem Personal dürfte schwierig
       werden. Das Amt hat ja bereits seine Mitarbeiter, viele mit Beamtenstatus.
       „Wer den neuen Weg nicht mitgehen will, wer versucht, zu torpedieren, der
       wird keinen Platz mehr haben“, sagt Kramer dennoch. Und: Sein Vorhaben
       liege auf Linie mit der politischen Führung in Thüringen. „Wenn man das
       nicht hätte haben wollen, hätte man mich nicht holen brauchen.“
       
       Tatsächlich hat Rot-Rot-Grün in Thüringen die Reform des
       Verfassungsschutzes so weit vorangetrieben wie kein anderes Bundesland. Das
       Amt wurde ins Innenministerium integriert. Es darf Extremisten nur noch
       beobachten, wenn diese auch Straftaten begehen – nicht mehr schon, wenn
       diese nur eine Demo anmelden. Eine parlamentarische Kontrollkommission darf
       seine Akten einsehen. Im Haus sitzt nun ein unabhängiger „Controller“, ein
       früherer Staatsanwalt, der jede Observation auf ihre Rechtmäßigkeit hin
       prüft. Im Frühjahr dann ein bundesweites Novum: Rot-Rot-Grün ließ fast alle
       V-Leute abschalten. Und nun kommt Kramer.
       
       Demnächst soll noch eine Expertenkommission das gesamte Amt durchleuchten.
       Kein Schritt erfolgt jetzt mehr ohne Kontrolle. Oder wie es
       Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow sagt: Ab jetzt gelte das
       Vier-Augen-Prinzip.
       
       ## Geltende Regularien
       
       Es ist eine Kampfansage an eine Institution, die vom Konspirativen lebt.
       Entsprechend kritisch beäugen jetzt die anderen Verfassungsschutzämter
       Thüringen. Man schaue „mit Neugier“ auf Kramers Dienstantritt, heißt es
       offiziell, ganz diplomatisch. Hinter vorgehaltener Hand aber ist von einer
       „Schaufensterpolitik“ Thüringens die Rede. „Es gibt“, bemerkt ein
       langjähriger Geheimdienstmitarbeiter, „geltende Regularien für den
       Verfassungsschutz und daran wird sich auch Thüringen halten müssen.“
       
       Es ist vor allem die Abschaltung der V-Leute, die die anderen Ämter den
       Thüringern nachtragen. Bei jeder Gelegenheit verteidigt Hans-Georg Maaßen,
       Präsident des Bundesverfassungsschutzes, die Szeneinformanten als
       „unverzichtbar“. CDU-Innenminister drohten damit, den Informationsfluss an
       Thüringen einzuschränken. Und auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière,
       CDU, nannte die Abschaltung die „exakt falsche Entscheidung“. Die V-Leute
       seien „unersetzbar“.
       
       Ein gutes halbes Jahr ist seitdem vergangen. Hat sich Thüringen blind
       gemacht? Für Ministerpräsident Ramelow ist das „alles Propaganda.“ Der
       Verfassungsschutz sei „arbeitsfähig“, man pflege weiter den Austausch mit
       anderen Ländern. „Es gibt kein Sicherheitsrisiko. Das Sicherheitsrisiko war
       der alte Verfassungsschutz.“ Die Reform, sagt Ramelow, war nach dem
       NSU-Versagen alternativlos. „Eher sollten sich andere Bundes- und
       Landesminister fragen, warum sie ihre Verantwortung wegmogeln.“
       
       Tatsächlich steht Thüringen mit seiner Reform allein da. Mehrere Länder
       trugen ihrem Verfassungsschutz strengere Regeln zur V-Mann-Führung auf.
       Aber eine Generalabschaltung? Nicht im grün-roten Baden-Württemberg, nicht
       im rot-roten Brandenburg, nicht im rot-grünen NRW. Und im Bund erhielt der
       Bundesverfassungsschutz gar 750 neue Stellen und wurde gestärkt, um Fälle
       an sich ziehen zu können.
       
       ## Aktive rechtsextreme Szene
       
       Und, fragt man dort, kann sich gerade Thüringen die Ausbremsung des
       Verfassungsschutzes leisten? Das Land hat bis heute eine der vitalsten
       rechtsextremen Szenen, die Zahl ihrer Gewalttaten steigt. Auch dort brennen
       Asylunterkünfte. In Weimar überfielen Neonazis am 1. Mai eine
       Gewerkschafterkundgebung, wie aus dem Nichts. In Hildburghausen trafen sich
       wenig später mehr als 1.500 Neonazis zu einem Konzert. In beiden Fällen
       wurden die Sicherheitsbehörden überrascht. Es war kein gutes Bild.
       
       Thüringens SPD-Innenminister Holger Poppenhäger beteuert, den
       Rechtsextremismus „genau im Blick zu haben“, auch nach der Radikalreform.
       In Weimar wie Hildburghausen seien vor allem Neonazis aus anderen
       Bundesländern angereist. „Wir schauen nicht durch die Milchglasscheibe, die
       Aufklärung funktioniert weiter.“
       
       Vielleicht auch, weil es noch ein Hintertürchen gibt. So können bei
       Terrorgefahr auch in Thüringen V-Leute weiter eingesetzt werden – aber nur
       mit dem Segen des Ministerpräsidenten. Es ist eine hübsche Pointe:
       Jahrelang wurde Bodo Ramelow als Linker selbst vom Verfassungsschutz
       bespitzelt; nun ist er Herr über dessen Spitzel. Eine Handvoll Informanten
       soll es tatsächlich weiter geben, vor allem wohl in der islamistischen
       Szene. Darüber reden will niemand. Nur so viel, sagt Ramelow: Leichtfertig
       V-Leute einsetzen werde er ganz sicher nicht.
       
       ## Technische Aufrüstung
       
       Ramelow genießt dabei die Unterstützung von Grünen und SPD. „Der Fall NSU
       hat gezeigt, wie extrem unzuverlässig die Quelle V-Mann ist“, sagt
       SPD-Innenminister Poppenhäger. „Es war daher richtig, alles auf Reset zu
       stellen.“ Und es gebe ja auch noch andere Mittel, um Extremisten im Auge zu
       behalten, bemerkt Poppenhäger. Er verschweigt nicht, welche: Ihm schwebe
       ein Verfassungsschutz mit mehr „technischem Know-how“ vor, mit jungen
       Spezialisten, „Digital Natives“.
       
       Tatsächlich hat der Thüringer Geheimdienst bereits in aller Stille
       umgeschichtet – hin zu mehr technischer Überwachung. Man kann es am
       Haushaltsentwurf für 2016 ablesen. 713.000 Euro soll der Verfassungsschutz
       dort für „Informationstechnik“ erhalten, allein 460.000 Euro für den
       Neuerwerb von Geräten und Software. Noch 2014 betrug der Gesamtposten nur
       332.000 Euro.
       
       Die Linke betont diesen Punkt nicht laut, aber sie geht den Weg mit. Dabei
       hat die Partei für den Verfassungsschutz eigentlich eine andere Vision:
       seine Abschaffung. In der Koalition sei dies nicht durchsetzbar gewesen,
       sagt Bodo Ramelow. Aber: „Ein Geheimdienst, der so schwer zu kontrollieren
       ist, bleibt wesensfremd in einer Demokratie.“
       
       Auch Stephan Kramer unterschrieb 2012 eine Resolution, in der es hieß: „Ein
       Geheimdienst, der nichts von der Mordserie des NSU wusste, wird nicht
       gebraucht.“ Heute sagt er, er glaube noch immer, dass vieles
       Zivilgesellschaft und Wissenschaft übernehmen könnten. „Aber solange wir
       auch Terrorismus oder Spionage bekämpfen müssen, sehe ich noch keine
       Alternative zum Verfassungsschutz.“
       
       Also wird sich Kramer ab Dienstag an seine Reform machen. Ein Jahr gibt er
       sich, dann soll sein „neuer Verfassungsschutz“ sichtbar sein. Falls nicht,
       sagt Kramer, dann werde er in sich gehen müssen. „Dann kann es sein, dass
       ich an einen Punkt komme, an dem es heißt: Es geht nicht, es braucht
       womöglich doch eine Abschaffung.“
       
       30 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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