URI: 
       # taz.de -- Breslau, Europas Kulturhauptstadt 2016: Angst und Kulturkampf
       
       > Breslau sei nicht braun, wiegelt eine Rathaussprecherin ab. Doch nicht
       > nur die Jüdische Gemeinde sieht rechten Ungeist in der Stadt aufsteigen.
       
   IMG Bild: Dieses Denkmal in Breslau heißt „Übergang 1977 - 2055“ und ist Symbol für den Untergang des Kommunismus und den Aufstieg der Demokratie. Geht die Demokratie schon wieder unter?
       
       Wrocław-Breslau taz | Mit einem Fanfarenstoß soll es losgehen, 2016 ist
       Wrocław-Breslau Kulturhauptstadt Europas. Acht Jahre lang haben Künstler,
       Kuratoren und Kulturmanager am Programm gearbeitet. Neben San Sebastián in
       Spanien steht die niederschlesische Metropole mit ihren 630.000-Einwohnern
       dann im Blickpunkt. Fertig geworden ist das Programm für die
       Kulturhauptstadt im Dezember, kurz vor dem Countdown zum „Erwachen“ – der
       Eröffnungsperformance vom 15. bis 17. Januar.
       
       Doch unter die Vorfreude der Breslauer hat sich Angst gemischt. Vor Kurzem
       erst fackelten Rechtsradikale mitten im Stadtzentrum die lebensgroße Puppe
       eines orthodoxen Juden ab. Millionen Menschen sahen im Fernsehen, wie die
       Schläfenlocken, der Hut und der Kaftan sowie die Europaflagge „des Juden“
       in Flammen aufgingen.
       
       Anna Szarycz, die stellvertretende Stadtpräsidentin Breslaus, wiegelt
       jedoch ab: „Das war ein Einzelfall.“ Die 50-jährige Beamtin ist für
       Gesundheit und Soziales zuständig und geht in die Vorwärtsverteidigung: „Es
       ist unfair, uns nun das Etikett ‚braun‘ anzukleben. Wir sind eine offene
       und tolerante Stadt.“ Nicht umsonst habe Papst Johannes Paul II. Breslau
       schon 1997 „Stadt der Begegnung“ genannt. Sie streicht einige Strähnen der
       kinnlangen blonden Haare zurück und sagt: „Direkt nach dem Zwischenfall
       distanzierte sich Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz ganz klar von den
       Nationalisten. In Breslau haben Xenophobie und Rassenhass keinen Platz!
       Außerdem hat er Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet. Was kann man
       mehr tun?“
       
       Karol Lewkowicz von der Jüdischen Gemeinde in Breslau schüttelt den Kopf
       und sagt: „Doch, man muss mehr tun!“ Zunächst will er aber klarstellen,
       dass die Beziehungen zwischen Stadtverwaltung und Gemeinde ganz
       ausgezeichnet seien. „Wir haben in Rafał Dutkiewicz immer einen
       wohlwollenden und hilfsbereiten Ansprechpartner.“ Um gegen die neueste
       Welle des Rechtsradikalismus anzugehen, müsse man seine Ursachen
       analysieren. „Neben den Hooligans und politischen Spinnern haben wir es
       heute mit einer ganz neuen Gruppe zu tun“, sagt der 63-jährige
       Medizingeräte-Hersteller und schaut vom Balkon seiner Wohnung aus in den
       Garten. „Das sind Hochschulabsolventen, die hohe Ansprüche ans Leben haben,
       dann hart auf dem Boden der Realität landen und nach Schuldigen für ihren
       Misserfolg suchen.“
       
       ## Studenten ohne Allgemeinbildung
       
       Die meisten der rund 140.000 in Breslau Studierenden würden den Absprung
       schaffen, erläutert er. „Aber die jungen Leute von heute haben nach ihren
       effizienten Kurzzeit-Fachstudien kaum noch Allgemeinbildung. Sie können oft
       nicht unterscheiden zwischen Fakten und Mythen, suchen dann im Internet
       nach eingängigen Erklärungen – und laufen am Ende politischen Rattenfängern
       hinterher. Das ist die Gefahr!“
       
       In einem Atelier der Akademie der Schönen Künste wartet Daniel Bak auf
       seinen Professor. Im nächsten Jahr will der 26-Jährige sein Kunststudium
       abschließen. Auf einem Tisch neben einem Gemälde von Papst Johannes Paul
       II. und einer Leidensfigur aus Gips liegen seine Gussarbeiten. „Das ist
       noch roh“, erläutert er. „Das muss alles noch poliert und bemalt werden und
       natürlich zusammengebaut.“ Besonders begeistert über Breslau als
       Kulturhauptstadt 2016 ist Bak nicht.
       
       „Ich hatte mich am Anfang sogar mit einem eigenen Projekt beworben. Aber es
       wurde abgelehnt. Warum, weiß ich nicht. Wahrscheinlich waren andere
       besser“, stellt der Mann mit dem Rauschebart und den Zwirbeln unter der
       Nase fest. Später habe er erfahren, dass das „Festival der hohen
       Temperaturen“, das eine der Visitenkarten der Breslauer Kunstakademie sei,
       nicht ins Kulturhauptstadtjahr aufgenommen worden sei. „Das sagt doch schon
       alles“, sagt er enttäuscht. „Ich bin froh, dass wir jetzt eine neue
       Regierung in Polen haben. Es kann nur besser werden. Diese ganzen alten
       Seilschaften müssen jetzt gehen. Ein neuer frischer Wind weht durch Polen.
       Das ist gut so.“
       
       ## „Das ist der Wille des Volkes“
       
       Den aktuellen Streit über Verfassungsgericht, Rechtsbruch und Demokratie
       findet er lächerlich. „Die Nation hat demokratisch die PiS-Partei gewählt.
       Regierung, Parlament und Präsident – alle sind PiS. Das ist der Wille des
       Volkes. Ich verstehe nicht, wieso jetzt angebliche Demokratieverteidiger
       auf die Straße gehen und gegen die neue Regierung demonstrieren.“
       
       Er gießt sich einen Tee auf, setzt sich an einen kleinen Holztisch und
       beginnt im Smartphone zu suchen. „Hier ist es. Das Gesetz 1066.“ Dieses
       Gesetz der Vorgängerregierung regelt den grenzüberschreitenden
       Katastrophenschutz. Seit 2014 können sich Polen und Deutsche bei
       Großbränden und Hochwasser im Grenzgebiet gegenseitig helfen und
       unterstützen. Daniel Bak tippt kurz, und schon plärrt die Stimme des
       ehemaligen Korrespondenten Max Kolonko durchs Atelier: „Ein gegenseitiges
       Hilfsabkommen. Ausgedacht von den Deutschen. Jetzt können fremde Kräfte in
       Polen einmarschieren und Demonstranten, ja euch, eins über den Schädel
       ziehen.“
       
       Daniel Bak ist fest überzeugt, dass das Gesetz den Deutschen einen Vorwand
       zum erneuten Einmarsch nach Polen geben könnte. Er öffnet das Fenster, holt
       eine Zigarette aus der schon etwas zerknautschten Packung und schaut
       langsam rauchend auf die Oder hinaus. „Ich kenne nicht alle Gesetze der
       Vorgängerregierung, aber solche und ähnliche Gesetze müssen rückgängig
       gemacht werden. Polen muss wieder ein souveräner und starker Staat werden.“
       
       ## Das Komitee der Zivilgesellschaft
       
       Małgorzata Lech-Krawczyk ist eine resolute Unternehmerin, die gern schnelle
       Entscheidungen trifft. Die 49-Jährige gehört zu den Gründungsmitgliedern
       des Breslauer Komitees zur Verteidigung der Demokratie, kurz KOD. In einem
       Café am Dominikanerplatz im Stadtzentrum kommt sie zur Sache. „Die Diagnose
       ist einfach: Wir haben noch immer nicht begriffen, dass zu einer
       funktionierenden Demokratie eine aktive Zivilgesellschaft gehört. Es reicht
       nicht, einmal alle vier Jahre einen Zettel in eine Wahlurne zu werfen. Wir
       müssen selbst politisch aktiv werden.“
       
       Schwungvoll wirft die studierte Philosophin das schulterlange Haar zurück.
       Kardinalfehler der alten wie der neuen Regierung sei, dass sie nicht mit
       den Bürgern redeten. Die beschlössen mit ihren Mehrheiten Gesetze, ohne die
       Wähler zu fragen oder zumindest ausreichend zu informieren. „Dabei sind
       doch die Abgeordneten, die Minister, die Premierministerin, ja und auch der
       Präsident unsere Angestellten. Wir sind der Souverän. Und die von uns
       gewählten Leute sollen gefälligst einen guten Job machen und uns nicht auf
       der Nase herumtanzen.“
       
       Die Stimmung in Breslau sei schlecht. Dabei sei keine Stadt so lebenswert
       und liebenswert wie „Wroc-Love“. Aber die politische Kultur liege
       vollkommen am Boden. „Unsere Politiker sind unfähig, konstruktiv
       miteinander zu streiten. Angeblich wollen alle nur das Beste für Polen,
       aber dann giften sie sich dermaßen an, dass Machtgier, Sozialneid und
       Rachsucht die Oberhand gewinnen.“ Sie nimmt einen großen Schluck schwarzen
       Kaffee und schließt für einen kurzen Moment genießerisch die Augen. In der
       geräumigen Handtasche sucht sie nach einem Flugblatt und hält es dann
       triumphierend in die Höhe. „KOD“ steht drauf, dann – unter dem rot und fett
       gedruckten Satz „Das Verfassungsgericht ist der Garant unserer Demokratie“
       – das Manifest der neuen Bürgerbewegung Polens.
       
       ## Eine Lektion in Demokratie
       
       „Vor ein paar Wochen haben wir mit einer Handvoll Leuten hier in Breslau
       angefangen. Bei der letzten Demo waren wir bereits 8.000. Landesweit
       engagieren sich inzwischen 100.000 Polen für die Demokratie!“ Sie reibt
       sich vor Freude die Hände, wird dann aber schnell wieder ernst. „Wir lernen
       gerade eine ganz wichtige Lektion“, sagt sie. „Es reicht nicht, schwer zu
       arbeiten, Geld zu verdienen, ein Haus zu bauen, den Kredit abzubezahlen,
       den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen und sich von Zeit zu Zeit
       eine Reise zu gönnen. Denn wir können das alles wieder verlieren, wenn wir
       keine Freiheit und Demokratie mehr haben.“
       
       Sie macht eine Pause, nickt nachdrücklich. Obwohl KOD noch ganz jung sei,
       würden im ganzen Land Strukturen aufgebaut. Am wichtigsten sei die
       politische Bildung der 20- bis 30-Jährigen. Da sei viel schiefgelaufen.
       „Wir sind doch eine tolle Gesellschaft! Wir müssen jetzt wieder lernen,
       miteinander zu reden. Zu sagen, der andere ist doof, und damit basta,
       bringt uns nicht weiter.“
       
       In der im Retro-Hipster-Stil renovierten Milchbar Barbara in der ul.
       Swidnicka 8b ist Hochbetrieb. Nach wie vor gibt es Essen „wie bei Muttern“,
       allerdings ist hier auch der zentrale Infopunkt für das
       Kulturhauptstadtjahr. Es gibt Programmhefte, Broschüren, Information,
       Internetstationen, Hilfe beim Herunterladen spezieller Breslau-Apps und in
       einem hinteren Raum Lesungen, Diskussionen, Vorträge. Die jungen Leute sind
       hilfsbereit und mehrsprachig. Doch wenn man sie auf die politische Stimmung
       in der Stadt anspricht, schütteln sie nur den Kopf und lächeln die Frage
       weg. „Wir reden hier nicht über Politik, nur über Kunst und Kultur“, meint
       eine der jungen Mitarbeiterinnen. Mit ihrem Namen will sie nicht genannt
       werden.
       
       ## Die Ruinen von Breslau
       
       Yaron Karol Becker, ein Intellektueller aus Tel Aviv, der 1957 mit seinen
       Eltern aus Polen nach Israel emigrierte, aber seit einigen Jahren wieder im
       südostpolnischen Lublin wohnt, will zum Kulturhauptstadtjahr nach Breslau
       kommen. Der heute 75-Jährige engagiert sich seit vielen Jahren im
       polnisch-jüdischen und polnisch-israelischen Austausch.
       
       Als Sechsjähriger ging er zum ersten Mal durch Breslau. „Ich erinnere mich
       an die Ruinen und an das Echo meiner Schritte.“ Jetzt sei Breslau
       wiederaufgebaut und auch Polen ein ganz anderes Land. „Ich befürchte nur,
       dass die aktuelle Politik der PiS-Regierung zu einem autoritären Regime
       führen könnte. Das wäre für mich eine ungeheure Enttäuschung.“
       
       29 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
   DIR Kulturhauptstadt
   DIR Polen
   DIR Breslau
   DIR PiS
   DIR Breslau
   DIR Polen
   DIR Breslau
   DIR Europäische Union
   DIR Polen
   DIR Polen
   DIR Polen
   DIR Polen
   DIR Polen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kulturhauptstadt Wrocław: Auferstanden aus Ruinen
       
       Die niederschlesische Hauptstadt Wrocław/Breslau hat sich zur lebensfrohen
       Metropole gewandelt. Nun ist sie Europäische Kulturhauptstadt 2016.
       
   DIR Vergangenheitsbewältigung in Polen: Spitzelvorwürfe gegen Lech Wałęsa
       
       Der polnische Ex-Präsident soll für den kommunistischen Geheimdienst
       gearbeitet haben. Er bestreitet das: Eine angebliche Personalakte sei
       gefälscht.
       
   DIR Eröffnung der Kulturhauptstadt: Breslau will europäisch bleiben
       
       Bei den Feierlichkeiten zum Auftakt von Breslaus Jahr als Kulturhauptstadt
       am Sonntag setzte die Stadt ein klares Signal für ein demokratisches Polen.
       
   DIR EU-Maßnahmen gegen Polen: Verschärfter Dialog
       
       EU-Kommissar Oettinger überlegt, die neue rechte Regierung in Polen unter
       Aufsicht zu stellen. Das ist nach EU-Recht möglich, dauert aber.
       
   DIR Protest gegen umstrittenes Mediengesetz: Rücktrittswelle in Polens Fernsehen
       
       Vier bekannte Fernsehmacher haben ihren Rücktritt erklärt. Sie protestieren
       gegen das neue Mediengesetz, das der Politik mehr Macht über das Fernsehen
       gibt.
       
   DIR Polens Parlament verabschiedet Gesetz: Medien als „Kulturinstitute“
       
       Die polnische Regierungspartei will das Mediensystem umbauen.
       Journalistenverbände fürchten Einfluss auf die Unabhängigkeit. Auch die
       EU-Kommission ist besorgt.
       
   DIR Rechtsruck in Polen: Sehnsucht nach dem Vater
       
       Polen ist nach rechts gedriftet. Viele Junge und Gebildete haben den
       Glauben an eine liberale Gesellschaft verloren. Ein Besuch in Krakau.
       
   DIR Gewaltenteilung in Polen: Streit um Verfassungshüter eskaliert
       
       Das Oberste Gericht rügt ein neues Gesetz zur Ernennung von Richtern. Es
       verstoße teilweise gegen die Verfassung. Das ficht Präsident Duda nicht an.
       
   DIR Rechtsruck in Polen: Demokratie in Gefahr
       
       Kaum ist die polnische Regierung im Amt, versucht sie schon, Medien und
       Justiz auf Linie zu bringen. Die meisten Polen interessiert das kaum.