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       # taz.de -- Müller seit einem Jahr Regierungschef: Weit mehr als ein Wowereit-Ersatz
       
       > Der heutige Donnerstag ist Michael Müllers 365. Tag als Regierender
       > Bürgermeister. Flughafen und Finanzen schienen zum Start die Themen – nun
       > überdeckt das Flüchtlingsthema alles
       
   IMG Bild: Er ist längst aus dem Schatten seines Vorgängers und SPD-.Parteifreunds Klaus Wowereit getreten: Michael Müller, der nun seit einem Jahr Regierender Bürgermeister von Berlin ist.
       
       Sein Start schien von immens wichtigen Themen überfrachtet. Gleich nach der
       Wahl zum Regierenden Bürgermeister rüber ins Kanzleramt, um über den
       Länderfinanzausgleich zu diskutieren. Uiuiui, würde das machbar sein für
       Michael Müller? Und schon am nächsten Tag die Aufsichtsratssitzung zur
       Problembaustelle BER, die seinen Vorgänger scheitern ließ – könnte er da so
       schnell im Stoff sein? Ein Jahr später wirken solche Sorgen fast
       lächerlich. Täglich 600 bis 800 neue Flüchtlinge in Berlin, das hat alles
       andere in den Hintergrund gedrängt.
       
       Der heutige Donnerstag, an dem Müller im Abgeordnetenhaus in der
       Haushaltsdebatte seine Politik verteidigen wird, ist sein 365. Tag als
       Berliner Regierungschef. Der Stadtstaat, den er seit dem 11. Dezember 2014
       regiert, ist seit damals um über 100.000 Menschen größer geworden. Über
       40.000 Berliner mehr pro Jahr hatten Müller schon bei seinem Amtsantritt
       von der wachsenden Stadt sprechen lassen. Dass 2015 zu diesnen noch fast
       70.000 Flüchtlinge kommen würden, war damals nicht zu erwarten.
       
       Er kriege nachts um zwei Uhr seine letzte Nachricht aus dem
       Koordinierungsstab, wie viele Flüchtlinge über Nacht erwartet würden, und
       morgens um sieben gebe es dann die tatsächliche Zahl, hat Müller jüngst
       erzählt. Solche Sätze können angeberisch wirken. Dass bei ihm dieser
       Eindruck nicht entsteht, mag viel damit zu tun haben, dass er als
       Regierungschef immer noch genauso allürenfrei ist wie zuvor als
       Fraktionsvorsitzender oder Senator.
       
       Daraus zu schließen, dass Müller, am Mittwoch 51 geworden, sich nicht
       verändert hätte, wäre allerdings falsch. Keine vier Jahre ist es her, da
       war er der blasse Mann im Schatten des glamourösen Wowereit. Ob die
       Pigmentierung tatsächlich heller war, spielte gar keine Rolle – Müller war
       einfach nicht die Sonne, sondern der Trabant, der sie umrundete, der dem
       Regierungschef die Mehrheiten in Partei oder Fraktion besorgte. Bis die SPD
       ihn 2012 nicht mehr als Landeschef sehen mochte und ihn ablöste. Es wurde
       eine Weile ruhig um Müller, doch ein Jahr später meldete er sich mit einer
       furiosen Rede im Parlament zurück. In diesem Stil ging es auch an der
       Spitze des Senats weiter, mit seiner Regierungserklärung zur
       Flüchtlingsfrage als jüngstem Meilenstein.
       
       Zur Chefsache hat er das Thema erklärt, hat sich den früheren
       Polizeipräsidenten Dieter Glietsch in seine Regierungszentrale geholt. Das
       macht ihn neben Sozialsenator Mario Czaja von der CDU zum Ziel aller
       Kritik. Folgt man der Opposition oder Boulevardblättern, dann bekommt es
       keiner von beiden hin. Diejenigen aber, die 2016 bei der
       Abgeordnetenhauswahl zumindest mittelbar entscheiden dürfen, ob er
       Regierungschef bleibt, sehen das anders: Müller ist in Umfragen der mit
       Abstand beliebteste Politiker. Das färbt auch auf seine Partei ab: 30
       Prozent wie aktuell hatte die SPD zuletzt im Juni 2012.
       
       Glietsch war nicht die einzige gute Personalentscheidung. Schon bei der
       Senatsneubesetzung hatte er mit Matthias Kollatz-Ahnen und Andreas Geisel
       (beide SPD) für Finanzen und Stadtentwicklung ein gute Wahl getroffen –
       auch wenn Geisel jetzt mit überhasteten Vorgehen bei
       Flüchtlingsunterkünften am Tempelhofer Feld eher planlos agierte. Nur
       teilweise beklatscht wurden seine Personalentscheidungen als Kultursenator.
       Zwar holte er unter Applaus Neil MacGregor in die Gründungsintendanz des
       Humboldt-Forums, vergrätzte aber Berlins alteingesessene Theatermacher, als
       er Chris Dercon an die Spitze der Volksbühne berief.
       
       Doch das ist angesichts von Mangel an Flüchtlingsunterkünften und
       Wartechaos am Lageso längst vergessen, genauso wie die noch von Wowereit
       auf den Weg gebrachte Olympia-Bewerbung, die im März scheiterte. Vergessen
       auch, dass Müller nicht konsequent wirkte, als er bei der Diskussion über
       die Homo-Ehe zwar vehement für ein Ja plädierte, im Bundesrat aus
       Koalitionsdisziplin aber nicht zustimmen mochte.
       
       Ein Jahr nach seinem Start und neun Monate vor der Abgeordnetenhauswahl
       deutet nichts darauf hin, dass Müllers Regierungszeit dann schon wieder zu
       Ende sein könnte. Er selbst gibt sich da ganz entspannt: Der Wahlkampf“, so
       sagte er jetzt der Nachrichtenagentur dpa, „kann auch noch nach den
       Sommerferien 2016 kommen.“
       
       9 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
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