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       # taz.de -- Glasbläser in Nordböhmen: Kräftige Kerle, glitzernde Kugeln
       
       > Die Geschichte der Glasmanufakturen erzählt auch die Geschichte der
       > Region und ihrer Erneuerung. Glas ist in Tschechien Teil der Identität.
       
   IMG Bild: Das noch heiße, geblasene Glas kommt zum Ausformen in das Model aus Buchholz.
       
       Prag ist beliebt, laut, voll. Durch die verwinkelten Gassen trotten
       Besucher meist in Großgruppen. Sie lassen sich auf der Karlsbrücke mit
       Blick auf die Moldau malen, sie lauschen den unzähligen Straßenmusikern,
       wenn sie sich nicht vor den auf dem Gehsteig vorbeirollenden Segwaytruppen
       in Sicherheit bringen.
       
       Und sie kommen unausweichlich am „Bohemia Cristal“ vorbei: Glaskreationen
       glitzern in unzähligen Auslagen: grün, blau, orange, violett strahlende
       Gläser, Vasen, Kronleuchter. Und Glasperlen in allen Formen, Farben und
       Variationen. Verführerisch, knallig bis zum Überdruss. Ob am Wenzelsplatz
       oder auf dem Weg zum Hradschin, dem historischen Viertel auf dem Burgberg,
       böhmisches Glas ist das Souvenir aus Tschechien.
       
       Das glitzernde Überangebot trübt leicht den Blick. So manche ausladende
       Vase, so manches verspielte Glas möchte man dann doch lieber nicht vererbt
       bekommen. Mit Jiří & Jiří, Landeskennern der besonderen Art, besuche ich
       Glashütten in Karlsbad, Lindava, Světlá nad Sázavou, Nový Bor, Šenov und
       Horní Dubenky, wo die gläserne Pracht nach traditioneller Handwerkskunst
       entsteht.
       
       In der Glasgalerie Minea im Kurhaus von Karlsbad bekommen wir einen
       Vorgeschmack auf modernes Design. Die Galerie steht für Kunst am Glas,
       elegant und modern. Radek Stehlik, Glasproduzent und Glasschneidemeister,
       erklärt uns die Besonderheiten des tschechischen Glases: „Es geht um
       hochwertiges Glas, in der Regel mit einem hohen Anteil an Bleioxid,
       mindestens 24 Prozent. Daher wird es Bleikristall genannt. Diese Substanz
       und spezielle Herstellungsmethoden verleihen dem Glas besondere Härte,
       sodass es sich gut zum Feinschleifen und zum Gravieren eignet.“
       
       ## Es glitzert
       
       Und es glitzert. Das einfallende Licht wird so gebrochen, dass
       regenbogenartige Farben entstehen. Eignet es sich in seiner ganzen Pracht
       auch zum Rotweintrinken ohne Bleivergiftung? „Klar“, sagt Stehlik
       schmunzelnd. „Da passiert nichts. Aber in Tschechien wird ohnehin mehr Bier
       getrunken.“
       
       Radek Stehlik bezeichnet sich selbst als begeisterten Glasmeister. Die
       Arbeit mit Glas scheint – nicht nur für ihn – eine nationale Berufung.
       „Glashütten entstanden in waldreichen Gegenden. Für die Produktion brauchte
       man Holz als Energie und Pottasche. Waldglas wurde dieses durch Eisenoxide
       grünlich gefärbte Pottascheglas genannt“, erzählt Radek Stehlik.
       
       Das böhmische Kristallglas wird traditionell seit dem 16. Jahrhundert
       hergestellt, hauptsächlich in Nord- und Westböhmen. Seitdem schmücken
       böhmische Kristalllüster, geschliffene Glasprodukte wie Wein- und
       Schnapsgläser, Vasen europäische Paläste. Das erste kristallklare Glas
       wurde Mitte des 15. Jahrhunderts in Venedig geschmolzen, das in der Folge
       mit Murano-Glas als Glasmetropole Karriere machte.
       
       „Die mitteleuropäischen Feudalherren ahmten mit einheimischem Material das
       künstlerische Niveau und den Komfort der italienischen Renaissance nach“,
       behauptet Stehlik. „In der Barockzeit wurde das böhmische Glas beliebt und
       bekannt: Es konnte geschliffen, geschnitten und somit noch facettenreicher
       bearbeitet werden.“
       
       ## Die Moser-Kunst steckt im Handschliff
       
       Weltstars und Prominente schmücken die Galerie des modern grau-schwarz-weiß
       gestalteten Cafés in der Karlsbader Glashütte Moser: Claudia Cardinale,
       Gina Lollobrigida, Whoopi Goldberg, Ornella Muti, Gérard Depardieu, Robert
       Redford. Auch der Papst und das neue spanische Königspaar waren hier. Moser
       Glas steht für edlen Luxus.
       
       Moser Glas ist bleifrei. Trotzdem weist es eine besondere mechanische Härte
       auf. Die Moser-Kunst steckt im Handschliff, in der künstlerischen
       Gravierung. Im Museum können wir die schönsten Exponate bewundern:
       beispielsweise das Hochzeitsgeschenk an die Prinzessin Elisabeth aus der
       Edition Splendid, den typischen Goldrandgläsern. Moser-Produkte sind bis
       heute offizielles tschechisches Staatsgeschenk.
       
       Videoprojektionen erzählen die Geschichte der Glasmanufaktur. Die Brüche in
       der Firmengeschichte sind typisch auch für andere Glashersteller: 1893
       eröffnet Ludwig Moser seine eigene Glashütte, die bald die ganze
       Österreichisch-Ungarische Monarchie belieferte. Schon damals gab es
       Moser-Niederlassungen in New York, London, Paris, Sankt Petersburg. Mit dem
       Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei wurde die Fabrik „arisiert“
       und zur Glasmanufaktur Karlsbad AG umbenannt.
       
       ## Arisiert, kollektiviert und privatisiert
       
       1945 wurde der Betrieb verstaatlicht. 1991, nach der Wende, wurde eine
       Aktiengesellschaft daraus. Heute ist es für Moser ein großer Erfolg, dass
       Amerika und Russland zu den Hauptabnehmern gehören und auch Thailand, Japan
       und Südkorea die Gläser mit Gravuren schätzen. Groß im Kommen sind der
       arabische Markt und China.
       
       Schon seit dem 11. Jahrhundert soll es in Böhmen Glashütten gegeben haben.
       An der Produktion des handgearbeiteten Glases in der Luxusmanufaktur Moser
       scheint sich bis heute nicht allzu viel verändert zu haben. Ein bulliger
       Kerl in kurzen Hosen, verschwitztem T-Shirt, mit verkohltem Gesicht wuchtet
       das glühende Glas mit dem Hefteisen, der Stahlstange für die Glasentnahme,
       aus dem Schmelzofen. Der Zweite bläst es mit der Blaspfeife, und der
       Glasmeister bringt es dann in die endgültige Form.
       
       Es ist heiß und laut in der Fabrikhalle. Aus dem Radio schmettert Hard
       Rock, überall stehen Wasserflaschen herum, aber auch Bier ist in diesem
       schweißtreibenden Ambiente erlaubt. 350 Arbeiter sind hier an 7 Tagen in
       der Woche tätig, auch feiertags, rund um die Uhr.
       
       ## Eine Sammlung von Gebrauchskunst
       
       Lindava ist ein kleines Nest östlich von Nový Bor mit sozialistischem
       Plattenbau und alten böhmischen Holzhäusern. Auf dem platten Land liegt die
       Glasmanufaktur Ajeto. Auch diese Werkstatt kann besichtigt werden. Sie ist
       klein und überschaubar. Die Prozedur am Schmelzofen ist überall die
       gleiche. Vasen, Schüssel werden hier in traditioneller Handarbeit
       hergestellt. Im kleinen Museum kann das Ajeto Art Glass bewundert werden:
       eine Sammlung von Gebrauchskunst, Kunsthandwerk und modernem Glas.
       
       Touristengruppen kommen im Restaurant der Glaserei, einer restaurierten
       Scheune, auf ihre Kosten. Die regionalen Spezialitäten, die Knödel, das
       Kraut, vor allem das regional gebraute Bier, lohnen sich.
       Regionalbewusstsein, regionalen Konsum, regionale Wanderwege und damit
       regionale Entwicklung hält man auch in Tschechien hoch.
       
       Die Firma Preciosa, auch bekannt für ihren Schmuck, stellt in Nový Šenov
       vor allem Kronleuchter her, vorwiegend klassisch, auch modern. Hotels,
       Theater, arabische Scheichs, russische Oligarchen lassen mit den
       traditionell produzierten glitzernden Lampen das Interieur veredeln. Schon
       1743 schufen tschechische Handwerker einen imposanten Kronleuchter für
       Maria Theresia.
       
       ## Das alte Handwerk im Aufwind
       
       Die Entwicklung der prosperierenden Schmuck- und Glasunternehmen in
       Nordböhmen wurde durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. 1945 schlossen
       sich sieben Kristallmanufakturen und achtzehn kleinere Firmen zur Preciosa
       Gesellschaft zusammen. Preciosa in Nový Šenov ist eine Tochtergesellschaft
       dieser Gruppe.
       
       Eine Studie der Universität in Liberec/Reichenberg bestätigt: „Die
       böhmische Glasindustrie ist nach schweren Einbrüchen wieder im Aufwind. Die
       Konkurrenz durch Billigimporte aus Asien sowie die Wirtschaftskrise trafen
       den Industriezweig hart.
       
       Die Herstellung von industriell produziertem Glas, Flachglas,
       Verpackungsglas und Glasfaser, auch für die Škoda-Werke in Mladá Boleslav,
       steigerte die Produktion. Aber auch das qualitativ hohe Glashandwerk wurde
       gefördert und vermarktet. Exporte und Gewinne stiegen.
       
       ## Die neue Generation des Glascuttings
       
       Im 19. Jahrhundert wurde die Glasherstellung mithilfe diverser Erfindungen
       industrialisiert. Doch konnten das Filigrane und Reine der handgearbeiteten
       Gläser erst nach vielen Erfindungen erzielt werden. Für eine weitere
       Industrialisierung der hochwertigen Glasproduktion steht die Firma Bomma in
       Světlá nad Sázavou. Der Ingenieur Jiří Trtík, Besitzer der Firma , will die
       langen Tradition des Glascutting in einer neuen Ära fortsetzen.
       
       In Svetlá nad Sázavou, der Wiege der tschechischen Glasschleiferei, wird
       mundgeblasenes Glas durch maschinellen Schliff veredelt. „Es ist eine
       industrielle Evolution“, behauptet Trtík. Die Maschine dafür, Bohemia
       Machine, hat er selbst erfunden. „Wir behalten die Qualität handwerklicher
       Arbeit, produzieren aber moderner, avantgardistisch und mit den besten
       tschechischen Designern“, sagt Trtík. In dem kleinen Laden der Fabrik
       können wir das überprüfen. Jiří, der Begleiter und Glasliebhaber, kann
       nicht widerstehen. Booma Weingläser, behauptet er, seien schön, modern und
       trotzdem alltagstauglich und praktisch.
       
       Mit Design punktet auch der Hersteller Brokis in Horní Dubenky. Er fertigt
       anspruchsvolle Leuchten. In der Produktionshalle ist es brütend heiß, wenn
       aus unförmigen Klumpen von Glasmasse durchscheinende Glasballons entstehen.
       Hier werden Leuchten produziert, die aussehen wie Luftballons, wie die
       Kollektion Balloons von Lucie Koldova und Yan Effet, die Glas mit Metall
       vereint.
       
       Von der Inszenierung à la Kristallwelten Swarowski in der
       Erlebnisdestination Tirol, die allein zwischen Mai und Oktober 2015 über
       500.000 Gäste aus 60 Nationen anzog, ist man in den unspektakulären
       Glasmanufakturen in Lindava, Nový Šenov oder Horní Dubenky meilenweit
       entfernt. Hier sieht man ungeschönt die Produktion der schönen Gläser. Und
       der riesige bunte Scherbenhaufen auf dem Firmengelände von Brokis zeigt,
       wie schwierig die Herstellung von Glas eigentlich ist.
       
       12 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Edith Kresta
       
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