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       # taz.de -- Neal Stephensons neuer Roman: 5.000 Jahre später
       
       > Der Mond ist kaputt, die Erde wird unbewohnbar. In „Amalthea“ schickt
       > Neal Stephenson die Überlebenden hoch hinaus und tief hinunter.
       
   IMG Bild: Einen Sonnenfinsternis in Norwegen. Ginge auch nicht mehr, wenn der Mond kaputt wäre.
       
       Für Pessimisten ist das Jahr 2015 ein Glücksgriff: Der Terror des
       „Islamischen Staates“, stärker werdende nationalistische und rassistische
       Bewegungen in Europa, Russland und den USA, Krieg in der Ukraine, ein
       weltumspannender Kapitalismus, der ungebremst Menschen und Ressourcen
       ausbeutet und dabei ökonomische und ökologische Krisen in Permanenz
       hervorbringt.
       
       Ein Science-Fiction-Schriftsteller, der all das vor Augen hat, kann fast
       nur voluntaristisch oder in einer Übersprungshandlung Utopie verordnen
       oder, wenn er realistisch sein will, eine dystopische Gesellschaft der
       Zukunft beschreiben, gegen die alles Übel von heute als wohlriechender
       Himbeerhain voller Glück erscheint.
       
       Neal Stephenson vermeidet beides. Dabei ist die Grundkonstellation [1][in
       seinem Roman „Amalthea“] verlockend, sich für eine der beiden Varianten zu
       entscheiden. Denn plötzlich ist der Mond kaputt. Etwas – man wird nie
       erfahren, was es war – hat ihn zertrümmert. Zuerst in sieben Teile, die
       bald nochmal kollidieren. Und wieder. Und abermals.
       
       Sodass der Menschheit nicht ganz zwei Jahre bleiben, bevor all diese
       Trümmer in die Erdumlaufbahn eintreten und als Meteoritensturm die Erde für
       fast 5.000 Jahre in etwas verwandeln, das mehr mit einem Schmelzofen zu tun
       hat als mit einem bewohnbaren Planeten.
       
       Zwei Jahre sind nicht viel, um zu retten, was zu retten ist. Schnell wird
       klar, dass höchstens 0,0005 Prozent der sieben Milliarden Menschen die
       Chance haben, zu überleben. Ein utopische Erzählung setzte danach auf einer
       Meta-Ebene an, die angesichts des Untergangs das gemeinsame menschliche
       Bestreben herausstellte, alle Differenzen zu überwinden und der Menschheit
       eine Zukunft zu garantieren. Auch in einer dystopischen Erzählung läge die
       Meta-Ebene nahe, es käme zu einem Kampf, bei dem die militärisch und
       ökonomisch Stärksten und Skrupellosesten sich die Voraussetzungen fürs
       Überleben sicherten.
       
       ## 6.999.965.000 Tote
       
       Stephenson wählt stattdessen eine pragmatische Erzählweise. Ja, die
       Menschheit versucht in „Amalthea“ gemeinsam zu reagieren. Die
       [2][Internationale Raumstation ISS] wird zur Basis für Raumschiffe, in
       denen Pioniere aus allen Staaten der Erde andocken. Ja, auch ein Kampf
       unter den Stärksten und Skrupellosesten kommt in Gang, die venezolanische
       Marine wird mit Atomwaffen angegriffen, die US-Präsidentin rettet sich
       selbst entgegen aller politischen Absprachen in einem ausgemusterten
       Nasa-Shuttle. Und doch siegen Pragmatismus und Flexibilität.
       
       Eine Raumflotte wird ausgerüstet, die ein paar tausend Menschen,
       genetisches Material von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie kulturelle
       Errungenschaften enthält. Andere Erdbewohner graben sich so tief wie
       möglich in Stollen und Schächten ein und auch unter Wasser wird nach Orten
       für ein sicheres Asyl gesucht, ohne dass eine Behörde sichere
       Herkunftsländer benennt, Fluchtgründe untersucht oder unterseeische Zäune
       errichtet. Dann hagelt es Mondtrümmer und 6.999.965.000 Menschen existieren
       nicht mehr.
       
       Pathos ist Stephensons Sache nicht, und doch sind Theatralik, Erhabenheit
       und Sentimentalität plötzlich da, wenn Metropolen von Tsunamis getroffen
       werden und Kathedralen in Flammen aufgehen. Auf den anderen 1.000 Seiten
       aber bleiben Stil und Sprache gewohnt nüchtern und unaufgeregt. Stephenson
       ist als [3][Autor des Cyberpunk] bekanntgeworden, einem utopische
       Meta-Welten verachtenden Untergenre des Science Fiction, hat sich aber mit
       Romanen wie „Cryptonomicon“ und einem dreiteiligen Barock-Zyklus
       („Quicksilver“, „Confusion“, „Principia“) auch schnell wieder davon
       freigeschrieben.
       
       ## Technologie als Werkzeug
       
       Der US-Amerikaner ist ein Autor, der beim Schreiben mehr aus
       naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien schöpft als aus
       Romantheorie und Literaturwissenschaft. Pragmatisch eben, mit einer
       Vorliebe für technologische Details und breitflächige Erzählungen,
       gelegentlich mit personalisierten Action-Plots gemischt. Stephenson liest
       sich trotzdem immer gut, weil er sich von platten
       Sci-Fi-/Fantasy-Pageturnern und anderer Reißbrettliteratur dank umfassender
       Recherche und intellektueller Durchdringung seiner Themen deutlich abhebt.
       
       So entsteht Literatur, die sich großen Fragen widmet, ohne sie
       futuristisch-agitatorisch oder techno-propagandistisch einzuhegen.
       Stephenson erzählt in „Amalthea“ nicht nur eine mitreißende Geschichte. Er
       führt auch technologische Möglichkeiten vor, die beeindrucken. Sie
       beeindrucken umso mehr, weil sie nur das sind, was interessengeleitete
       Menschen aus ihnen machen. Oft genug in der Science Fiction auf schlichte
       Art verherrlicht oder in banalster Weise verteufelt, ist Technologie in
       diesem Buch nur ein Werkzeug, das mit der gebotenen Umsicht und reichlich
       Skepsis eingesetzt wird.
       
       Auf so manchen Leser warten in „Amalthea“ eine Menge Zumutungen: Atomkraft
       kann unter Umständen im All sehr nützlich sein, Gentechnologie hilft der
       Menschheit beim Überleben, in Matriarchaten entstehen nicht unbedingt
       bessere Menschen, der Kapitalismus wird weder abgeschafft noch gezähmt und
       der Zentralismus in Form der ISS siegt in der Krise über seine dezentral
       organisierten Konkurrenten, die in Kleinst- und Klein-Archen leben und
       kooperieren.
       
       Es ist allerdings ein Sieg, den nur acht Menschen im All überleben. Es sind
       acht Frauen: Aida, Camila, Dinah, Ivy, Julia, Moira, Tekla und Luisa. 5.000
       Jahre später wird man die sieben fruchtbaren unter ihnen die „Urmütter“
       nennen, die sich dank eines kleinen Teils des von der Erde auf die ISS
       gebrachten genetischen Materials – 97 Prozent gehen bei einem Unfall
       verloren – auch fortpflanzen konnten. So begründeten sie das Leben in
       Habitaten, errichtet auf großen Gesteinsbrocken, von denen aus die Erde
       wieder besiedelt werden soll, sobald sie als bewohnbar eingestuft wird.
       
       ## Der Gesellschaftsvertrag der „Urmütter“
       
       Der Mangel an Überlebenden und der Mangel an Genmaterial sind ein von
       Stephenson geschickt gesetztes Axiom. 5.000 Jahre Zeit hatte die
       Menschheit, sich auf die Wiederinbesitznahme der Erde vorzubereiten, 5.000
       Jahre, in denen die Planung einer nahezu perfekten Welt möglich sein
       sollte. Und dann kommt wieder nur ein Gerangel um Macht, Einflusssphären
       und Vorherrschaft zustande. Das Axiom dämpft die überschüssigen Erwartungen
       beim Lesen. Wieder und wieder wird einem deutlich gemacht: Die Ressourcen
       waren begrenzt, deswegen waren es die Möglichkeiten der neuen Evolution
       auch.
       
       Die „Urmütter“ einigten sich in einer Art Gesellschaftsvertrag, dass jede
       von ihnen, gentechnologisch unterstützt, ihre eigene Abstammungslinie mit
       spezifischen Stärken und Fähigkeiten hervorbringen möge. Diese
       „Quasi-Rassen“ hätten nun endgültig das Potenzial für eine deftige
       Dystopie, einen in die Zukunft verewigten „Clash of Civilizations“, wo sich
       die julianische Pegida und der aidianische „Islamische Staat“
       Weltraumschlachten liefern und ein postpostpostgriechisches Habitat noch
       immer Schulden an die Weltraumzentralbank zurückzahlen muss.
       
       Doch wieder siegen Pragmatismus und Flexibilität. Wenigen Extremen steht
       eine überwiegend vermischte Menschheit in den Habitaten gegenüber, die
       teilweise im All bleiben will und der Wiederbesiedlung des Planeten nichts
       abgewinnen kann. Hinzukommen noch die Überlebenden der Erde, die sich nicht
       im All, sondern – nicht minder widrigen Bedingungen ausgesetzt – unter
       dicken Gesteinsschichten oder unter dem Meer fortentwickelten.
       
       Was nun? Werden die Menschen endlich alle Differenzen hinter sich lassen
       und auf der Grundlage eines 5.000 Jahre alten Soundfiles gemeinsam
       [4][Michael Jacksons „Earth Song“] singen? Oder werden sie alle gemeinsam
       erst recht unausstehlich sein? Das Buch verweigert eine Antwort und doch
       ist klar: pragmatisch wird es weitergehen, geht ja gar nicht anders.
       
       21 Dec 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.randomhouse.de/Buch/Amalthea-Roman/Neal-Stephenson/e481516.rhd
   DIR [2] http://www.nasa.gov/mission_pages/station/main/index.html
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Cyberpunk
   DIR [4] http://www.clipfish.de/musikvideos/video/2666575/michael-jackson-earth-song/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maik Söhler
       
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