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       # taz.de -- NS-„Rassereferent“ rettete Tausende Juden: Calmeyers Tricks
       
       > Ein neues Buch zeigt, wie der Osnabrücker Hans Calmeyer Tausende Juden
       > vor der Deportation bewahrte. Idealisert wird er dabei nicht.
       
   IMG Bild: Durchschnittsstadt Osnabrück: Hans Calmeyer konte hier erst nach ‚45 zum Helden werden.
       
       BREMEN taz | Manchmal bricht es bei Mathias Middelberg doch durch: „Im
       Februar 1953 gebar Ines Hentschel Hans Calmeyer einen Sohn“, schreibt er
       doch tatsächlich in seinem neuen Buch über Hans Calmeyer. Müssen
       [1][CDU-Abgeordnete] sich durch solche Einsprengsel konservativen Jargons
       zu erkennen geben? Aber egal: Die grotesk verstaubte Floskel von der Frau,
       die dem Erzeuger ein Kind gebärt, ist eine absolute Ausnahme in Middelbergs
       Werk: „Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?“, heißt das
       Buch.
       
       Es ist beim Göttinger Wallstein Verlag erschienen und erweist sich als ein
       mit Schwung erzähltes, eindringliches Lebensbild Hans Calmeyers – und zwar
       eines, das dessen Ambivalenz und Fehlbarkeit eben nicht zwecks Heroisierung
       ausblendet.
       
       „Der ‚Rassereferent‘ Hans Calmeyer war Teil der Vernichtungsmaschine“,
       resümiert Middelberg. Zugleich aber lässt er kaum Zweifel daran, dass der
       Funktionär der Besatzungs-Verwaltung in Den Haag zwischen 1941 und 1945
       tatsächlich „mehr Juden gerettet“ hat, „als jeder andere Deutsche während
       des Zweiten Weltkriegs“.
       
       Middelberg macht das plausibel, indem er die juristischen Tricks und
       Manöver rekonstruiert, mit denen der gebürtige Osnabrücker seine
       entlastenden Entscheidungen auf nichtjüdische Herkunft anhand von
       präparierten Unterlagen und bestellten Gutachten gegen die Kontrollen durch
       Sicherheitsdienst und Sicherheitspolizei abschirmte.
       
       ## „Rassische Zweifelsfälle“
       
       Die Wirksamkeit dieser niedrigschwelligen Sabotage, die am Ende, 1944, den
       Argwohn der SS weckte, lässt sich anhand der Statistik ermessen: Während
       nur einem Zehntel der entsprechenden Anträge beim Reichssippenamt
       stattgegeben wurde, bestätigte die Entscheidungsstelle für „rassische
       Zweifelsfälle“ im Haager Reichskommissariat für die besetzten Niederlande
       knapp 4.000 von 6.000 PetentInnen, dass sie keine Juden im Sinne der
       Nürnberger Rassengesetze – und deshalb nicht zu deportieren seien, nicht zu
       den vermeintlichen „Arbeitseinsätzen“ in den „Ostgebieten“ müssen. Also
       nicht nach Auschwitz. Calmeyer war für diese Entscheidungen persönlich
       zuständig.
       
       Daran hatte es teils massiv vorgetragene Zweifel gegeben. Andererseits gab
       es – zumal in Osnabrück – durchaus Verklärungstendenzen. Für die steht, und
       das hat etwas Tragisches, der Name Peter Niebaum: Der Studienrat war es ja
       gewesen, der in den 1980er-Jahren Calmeyers Wirken wiederentdeckt hatte.
       Aufgrund seiner Forschungen nahm die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem
       [2][Calmeyer 1992 in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“] auf.
       Statt aber, nachdem schon gegen seine erste, 2001 erschienene
       Calmeyer-Biografie der Vorwurf der Einseitigkeit erhoben wurde, das Bild
       seines Helden zu differenzieren, hat Niebaum es über die Jahre hin immer
       weiter vereinheitlicht, den Hintergrund mit Gold ausgemalt – und
       abweichende Meinungen, besonders die des sehr Calmeyer-skeptischen
       [3][niederländischen Kriegsdokumentationszentrums], mit wachsender
       Erbitterung bekämpft.
       
       Niebaums 2011 vorgelegte Studie „Hans Calmeyer – ein ‚anderer Deutscher‘ im
       20. Jahrhundert“ zeichnete sich dann durch eine mitunter grotesk selektive
       Quellenbehandlung im Dienste des Gut-böse-Schemas aus: Belastende Dokumente
       finden keinen Eingang, Calmeyers Selbstdarstellungen werden ebenso wie die
       lobenden Aussagen seiner Freunde ungeprüft übernommen, wobei aber auf
       Aussagen seiner Nazi-Kumpels verzichtet wird. Dafür erzählt Niebaum
       gänzlich Ungewisses im Stile einer Legende: „Sozialist – ja, das ist
       Calmeyer, der die USPD, die linke Abspaltung von der
       Mehrheitssozialdemokratie wählt, solange es sie gibt“, schreibt Niebaum.
       Eine Quelle dafür fehlt.
       
       Den tristen Höhepunkt erreicht dieser Drang zur Hagiografie dann im
       Calmeyer-Kapitel des Bandes „Topografien des Terrors“: 2013, mitten in den
       Vorbereitung zur Veröffentlichung, starb Niebaum. Seinen Entwurf hat man
       einfach übernommen – und dabei vermutlich aus falscher Pietät auf jede
       kritische Durchsicht verzichtet: So kolportiert Niebaum in diesem kurzen
       Aufsatz die späte Erinnerung eines Nachbarn, dem sich der 1972 verstorbene
       Calmeyer als „Anti-Nazi der ersten Stunde“ offenbart habe. Und zwar sei er
       das gewesen, seit er in München „am 9. November 1923 Zeuge des
       Hitler-Ludendorff-Putsches wurde“.
       
       ## Beeindruckende Widersprüche
       
       Naja, Zeuge ist nicht falsch. Allerdings wäre hier schon wichtig gewesen,
       zu präzisieren, dass Calmeyer damals ein eher teilnahmsvoller Zeuge war.
       Das rechtsradikale Freikorps Epp, dem er angehörte, marschierte schließlich
       mit auf die Feldherrenhalle. In seinem „ein anderer Deutscher“-Buch benennt
       Niebaum diesen Umstand noch, findet dafür aber „keine befriedigende“
       Erklärung. Weil er ja Calmeyer als einen anderen Deutschen und zudem
       USPD-Anhänger sieht. Also fällt die Episode im letzten Aufsatz eben weg.
       Das ist traurig, weil es eine Calmeyer-Forschung, wie gesagt, ohne Niebaum
       wohl bis heute nicht gäbe.
       
       Auch Middelberg zählt zu denen, die durch Niebaum zum Thema gekommen sind:
       In seiner 2005 veröffentlichten Dissertation dankt er ihm dafür, dessen
       erste Biografie noch als Typoskript zum Lesen bekommen zu haben. Das
       moralische Dilemma Calmeyers greift er mit der Titelfrage zwar auf, er
       versucht aber eben nicht, es aufzulösen. Ob sein Protagonist ein Held und
       Heiliger oder ein Täter und Abgesandter des Bösen war, bleibt Sache der
       Lesenden. Das ist auch erzählerisch klug, denn Calmeyer, der schon 1933 als
       Anwalt Berufsverbot erhält, weil er Kommunisten verteidigt und mit der
       Roten Hilfe zusammengearbeitet hat, ist gerade durch sein an Widersprüchen
       und Wendungen reiches Leben eine beeindruckende Figur.
       
       ## Calmeyer rettete Anne Franks beste Freundin
       
       Middelberg rekonstruiert dabei den spezifischen Hintergrund, den er für
       seine Dissertation erforscht hatte: Die Judenverfolgung in den Niederlanden
       unterscheidet sich stark von der im Reich oder im besetzten Polen. Zugleich
       durchwebt er die Geschichte klug mit Einzelfall-Schilderungen. In denen
       lässt sich die Dimension der Rolle Calmeyers erst fassen, ihre Tragik und
       auch ihre Abgründe.
       
       Da ist die Geschichte der Schauspielerin Camilla Spira, die Calmeyers
       Dienststelle zur Vollarierin erklärt, obwohl sie sich selbst ursprünglich
       belastet hatte: Sie hatte der Meldebehörde gegenüber wahrheitsgemäß
       angegeben „zwei jüdische „Großeltern“ zu haben und „jüdisch verheiratet“ zu
       sein. Er berichtet von der Rettung der van Maarsens, deren Tochter
       Jacqueline bekannt ist durch Anne Franks Tagebuch – als ihre beste Freundin
       Jopie.
       
       Und er schildert den Fall der Marianne Hendrix: Die wird durch Calmeyer
       arisiert. Das Kind sei, so nimmt die Behörde an, Ergebnis eines
       Seitensprungs der Mutter. „Marianne überlebte. Ihre Eltern, Berthe und Paul
       Henri Hendrix,ein früherer Bankier und unter der deutschen Besatzung
       Mitglied der Finanzkommission des Jüdischen Rates, aber auch Mariannes
       damals zehn und dreizehn Jahre alte Brüder Hans und Robert wurden in
       Auschwitz ermordet.“
       
       Mathias Middelberg: Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?.
       Hans Calmeyer – Rassereferent in den Niederlanden 1941-1945, Wallstein
       2015, 272 S., 19,90 Euro 
       
       Peter Niebaum: Hans Calmeyer – ein „anderer Deutscher“ im 20. Jahrhundert,
       Frank & Timme 2011, 210 S., 19,80 Euro 
       
       Mathias Middelberg: Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide?.
       Hans Calmeyer – Rassereferent in den Niederlanden 1941-1945, Wallstein
       2015, 272 S., 19,90 Euro
       
       22 Dec 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://mathias-middelberg.de/
   DIR [2] http://www.yadvashem.org/yv/en/righteous/stories/calmeyer.asp
   DIR [3] http://www.niod.knaw.nl/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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