URI: 
       # taz.de -- Essay Journalismus und Zuwanderung: Wider die Eskalation der Angst
       
       > Deutschland hat sich verändert. Die Redaktionen sollten das auch tun.
       > Welche Medien braucht die Einwanderungsgesellschaft? Drei Thesen.
       
   IMG Bild: Medien sollten eine aufgeklärte Sicht auf die Konfliktlagen der Welt vermitteln.
       
       Was bedeutet guter Journalismus, wenn eine Gesellschaft aus immer mehr
       Zugewanderten besteht? Wie nie zuvor stehen Redaktionen heute unter dem
       Druck einer täglichen Welle von Hass-Kommentaren. Und wie nie zuvor seit
       dem Ende des Nationalsozialismus werden Kollegen mit Mord bedroht, offen,
       öffentlich. Deshalb zunächst Chapeau allen, die diesem Druck standhalten!
       Doch die Probleme wurzeln tiefer. Können Medien, so wie sie bisher
       funktionieren, überhaupt zum Gelingen einer Einwanderungsgesellschaft
       beitragen?
       
       Professioneller Journalismus findet heute in einem radikal veränderten
       Umfeld statt – und professionell soll hier bedeuten: eine bezahlte
       Tätigkeit für privatwirtschaftliche oder öffentlich-rechtliche Medien
       (Print, Online, Rundfunk, Fernsehen). Radikal verändert ist das Umfeld
       zunächst, weil gesellschaftliche Mobilisierung heute ohne diese Altmedien
       und teils auch gegen sie möglich ist, und zwar durch eine
       Zivilgesellschaft, die sich rechts bis rechtsradikal geriert. Zugleich
       verlangt die moderne Einwanderungsgesellschaft ein neues, dem Gemeinwohl
       nützendes Selbstverständnis von Journalisten. Dazu drei Thesen.
       
       Erstens. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Deutschland
       ist zur Einwanderungsgesellschaft geworden gegen die Medien. Sie haben die
       Entwicklung mehr behindert als gefördert, sie waren das Schlusslicht beim
       Marsch in eine neue Zeit. Dies zeigt sich zunächst an jedem Konferenztisch:
       Während im übrigen Deutschland jeder Fünfte eine familiäre
       Migrationsgeschichte erzählen kann, ist es in den Redaktionen jeder
       Fünfzigste. Schützenvereine sind heute interkultureller als
       Journalistenrunden.
       
       Wichtiger aber ist: Medien haben über Jahre entscheidend das negative Image
       muslimischer Einwanderer geprägt. Die „Islamisierung des Abendlandes“
       begann nicht bei Pegida, sondern auf den Titeln des Spiegels. Die Medien
       tragen insbesondere Verantwortung für die Verachtung, mit der die deutsche
       Öffentlichkeit auf die muslimische Frau blickt.
       
       Bis heute illustrieren Redaktionen das Thema Bildungsdefizite am liebsten
       mit einem Kopftuch. So ist denn auch eine neue Generation hoch gebildeter
       Musliminnen in Deutschland gegen die Medien herangewachsen. Das enorme
       Selbstbewusstsein dieser jungen Frauen entstand im Kampf gegen die
       Geringschätzung, die ihnen an jedem Zeitungskiosk entgegenschlug.
       
       Journalisten reagieren gereizt, wenn man sie auf die Wirkung ihrer Branche
       anspricht. Medienleute nehmen zwar gern Vorrechte und Privilegien in
       Anspruch, die ihnen als Kollektiv gewährt werden, bis hin zum Presserabatt
       für private Anschaffungen. Doch wenn es um die Folgen ihres kollektiven
       Handels geht, will niemand Verantwortung übernehmen: Bitte nichts
       verallgemeinern!
       
       Tatsächlich aber sind wir Journalisten zuständig: nämlich für die
       hochgiftigen Altlasten jahrelanger Meinungsmache. Sie kommen nun als
       Kondensat zurück, mit Aufschriften wie AfD oder Le Pen, und quellen aus den
       Kommentarfunktionen.
       
       ## Neue Position beziehen
       
       Zweitens. Die Einwanderungsgesellschaft verlangt von Journalisten ein neues
       Verständnis ihrer Rolle – und den Abschied von einem so beliebten wie
       überholten Selbstbild. Journalisten neigen immer noch dazu, sich an die
       Stelle der Gesellschaft zu setzen und den Politikern dann in der Pose
       selbsternannter Volkstribune gegenüberzutreten. Das war vielleicht in den
       1980er Jahren schick. Das vielstimmige Deutschland des 21. Jahrhunderts hat
       an diesen Posen keinen Bedarf mehr.
       
       Als sich in der Anfangsphase der Willkommenskultur das massenhafte Handeln
       einer erwachsenen Zivilgesellschaft zeigte, reagierten die Medien
       überrascht und irritiert. Manche hechteten in die populäre Welle, jede
       Distanz verlierend, andere retteten sich in Häme. Es war die Häme derer,
       die an Statusverlust leiden. Erst waren sie als Lügenpresse geschmäht
       worden, und nun brauchten die Gutmenschen sie auch nicht mehr.
       
       Wer auf die Zusammensetzung der ehrenamtlichen Helfer blickte, der sah: Das
       Einwanderungsland ist Realität geworden; unter der Oberfläche, jenseits von
       allem politischen Getöse, hat sich Deutschland immens verändert. Für die
       Medien, die diese Veränderung am eigenen Leibe nicht mitvollzogen haben,
       wird es Zeit, sich neu zu positionieren – um die Privilegien, die sie als
       Kollektiv genießen, weiter zu rechtfertigen.
       
       Was heißt das konkret? Anders als etwa Joachim Gauck, der jüngst einen
       Kanon unverbrüchlicher Werte beschrieb, in den sich die Zugezogenen
       integriert müssten (etwa „das vorbehaltlose Bekenntnis zum Existenzrecht
       Israels“), sehe ich die Einwanderungsgesellschaft als eine permanente
       Werkstatt, in der wir um neue Konsense ringen müssen. Am Beispiel Israel
       wäre das die schwierige Frage: [1][Wie kann Deutschland künftig] seiner
       Verantwortung aus dem Holocaust gerecht werden, wenn ein wachsender
       Bevölkerungsteil mit der Geschichte der Täter nicht mehr verbunden ist?
       
       ## Angstgesteuerten Mechanismus überwinden
       
       In der permanenten Werkstatt sollten Journalisten besonders kundige
       Handwerker sein. Kundig im Übersetzen, im Erklären, durchaus auch im
       Vermitteln. Vermitteln heißt nicht beschönigen. In der Vergangenheit
       schienen die Medien oft in das Misslingen von Integration verliebt – weil
       nur das Negative, das Misslungene ein feines Thema ist. In der Summe
       entstand so ein Zerrbild, an dem sich Rechtspopulismus nährt. Könnten sich
       Journalisten auch als Agenten des Gelingens einer Einwanderungsgesellschaft
       empfinden?
       
       Dafür müssten sie allerdings einen Mechanismus überwinden, der vor allem
       die aktuellen Medien antreibt – ich nenne ihn den „angstgesteuerten
       Eskalationstrieb“. Nichts fürchten Blattmacher und Programmverantwortliche
       mehr, als verspätet mitzubekommen, woher der Wind weht (den die Branche
       selber macht).
       
       Bloß nicht als Letzter das neueste Worst-Case-Szenario entdecken. Bloß
       nicht als Letzter den Brandgeruch riechen, wenn etwas kokelt. Lieber einen
       Konflikt schüren, bevor es andere tun. So wird ein Flüchtling, der einer
       Frau nicht die Hand geben will, zum Thema von Millionen.
       
       Um einen Journalismus zu betreiben, der deeskaliert statt eskaliert, ist
       Mut und geistige Unabhängigkeit erforderlich. Genug Unabhängigkeit, um etwa
       einem SPD-Chef zu sagen, dass er die Rentnerin in Kittelschürze besser
       nicht „Pack“ nennt, solange ihr feiner Souffleur in der Partei ist.
       
       ## Monopol der Altmedien
       
       Drittens. Trotz Statusverlust – Medien haben Macht. Nur liegt diese Macht
       heute vor allem in der außenpolitischen Berichterstattung. Sie entscheidet
       maßgeblich, ob es in der Einwanderungsgesellschaft eine Bereitschaft zum
       inneren Frieden und zum Teilen gibt. Es kommt dafür nämlich darauf an,
       welches Bild von der Welt vermittelt wird – und von der Rolle der eigenen
       Nation und der eigenen Lebensweise in dieser Welt.
       
       In der auswärtigen Berichterstattung haben die Altmedien immer noch
       weitgehend ein Monopol, jedenfalls für alle, die sich nur in deutscher
       Sprache informieren können. Das ist vor allem die kopfstarke ältere
       Generation. Und gerade die müssen wir mitnehmen, müssen wir gewinnen für
       die Akzeptanz einer Gesellschaft, die sich von jener, in der die Alten jung
       waren, eben sehr unterscheidet.
       
       Die Einwanderungsgesellschaft braucht Medien, die eine aufgeklärte Sicht
       auf die Konfliktlagen der Welt vermitteln, ohne eurozentrische
       Denkschablonen. Dazu gehört der präzise Blick auf die politischen und
       wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen des eigenen Landes. Eine mit
       Ressentiments gespickte Berichterstattung, wie es sie über Griechenland
       gab, kann sich die Einwanderungsgesellschaft nicht leisten. Denn diese
       Ressentiments verwandeln sich schnell zu Aggressivität im Inneren.
       
       Außenpolitische Berichterstattung ist heute fast nur noch
       Kriegsjournalismus. Und sie vermittelt eine Welt, in der die Deutschen fast
       ausschließlich Opfer sind. Opfer schlampiger Griechen, Opfer gieriger
       afrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge und natürlich Opfer muslimischer
       Terroristen. Während die Welt jetzt zu uns kommt, wird unser Guckloch auf
       die Welt immer kleiner: Eine totgesparte Berichterstattung durch
       schlechtbezahlte freie Journalisten und mit Studio-Experten, die über
       Weltgegenden reden, die sie oft nie von Nahem gesehen haben. Das kann nicht
       gut gehen.
       
       Wir sollten uns als eine der reichsten Nationen der Erde eine
       außenpolitische Berichterstattung leisten, die zu unserer geistigen
       Gesunderhaltung beiträgt. Und die uns friedensfähig macht, auch gegenüber
       dem Anderen zu Hause.
       
       31 Dec 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-Deutsche-Sicht-auf-Israel/!5239894/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
       ## TAGS
       
   DIR Medien
   DIR Zuwanderung
   DIR Journalismus
   DIR Rechtspopulismus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Flüchtlinge
   DIR Sachsen
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Islamophobie
   DIR Anti-Rassismus
   DIR Jugendgewalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Debatte Rechtspopulismus: Sie müssen gar nicht regieren
       
       Von Frankreich bis Polen, von Österreich bis Schweden: Längst haben die
       großen Volksparteien rechtsextreme Themen übernommen.
       
   DIR Debatte Pegida und der neue Hass-Diskurs: Heiter predigen glaubende Holzköpfe
       
       Das „Volk“ überbietet sich gegenseitig mit Hetzreden und berauscht sich an
       abstrusen Lügen. Kann es sie auch ernsthaft als wahr befinden?
       
   DIR Aktion gegen rechts: Amazon spendet Pegida-Song-Erlöse
       
       „Gemeinsam sind wir stark“ ist die Pegida-Hymne. Bei Amazon als Download
       beliebt. Die Einnahmen daraus will der Konzern nun einer
       Flüchtlingsorganisation spenden.
       
   DIR Fremdenfeindliche Gewalt in Deutschland: Sachsen ist Spitzenreiter
       
       In Deutschland gibt es immer mehr Gewalt gegen Flüchtlinge und deren
       Helfer, besonders in Ostdeutschland. Fakten über den Fremdenhass.
       
   DIR Strategien gegen Pegida: „Wir Deutsche“ neu definieren
       
       Pegida zeige, dass es einen tiefen Riss in der Gesellschaft gebe, sagen
       führende Migrationsforscher. Es müsse anders über Zugehörigkeit gesprochen
       werden.
       
   DIR Wissenschaftler über Islamophobie: „Die Asymmetrie zum Islam ist riesig“
       
       Offene Islamophobie geht nicht mehr, sagt Koray Yilmaz-Günay. Doch
       Konservative haben noch lange keinen Frieden mit dem Islam gemacht.
       
   DIR Debatte antirassistische Sprache: Infantile Sprachmagie
       
       Migrationsvordergründler oder Mehrheimischer? Sprache kann therapeuthisch
       gefärbt werden, aber die richtige Sprache gegen Rassismus gibt es nicht.
       
   DIR Jugendgewalt in Deutschland: „Toleranz hat sich verändert“
       
       In der öffentlichen Wahrnehmung werden Jugendliche immer brutaler. Der
       Kriminologe Gerhard Spiess rückt das Bild im Gespräch mit der taz zurecht.