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       # taz.de -- Debatte Folgen des Arabischen Frühlings: Der Effekt von Schmetterlingsschlägen
       
       > Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung 2010 war ein Signal des Aufbruchs.
       > Das zeigt – trotz vieler Rückschläge – immer noch Wirkung.
       
   IMG Bild: November 2011: Proteste nahe des Tahrir-Platzes in Kairo
       
       Vor fünf Jahren, am 17. Dezember 2011, zündete sich der tunesische
       Straßenhändler Mohamed Bouazizi selbst an. Im übertragenen Sinne war die
       verzweifelte Aktion des Gemüsehändlers ein Flügelschlag, der den arabischen
       Frühling mit all seinen Folgen ausgelöst hat.
       
       Der amerikanische Mathematiker und Meteorologe Edward Norton Lorenz hatte
       mit seiner berühmten Frage „Kann ein Schmetterlingsschlag in Brasilien
       einen Tornado in Texas auslösen“, die Theorie des „Schmetterlingseffekts“
       begründet. In einem empfindlichen, instabilen System können kleine
       Abweichungen in den Anfangsbedingungen enorme Folgen nach sich ziehen. Und
       instabil war das arabische System.
       
       In der Tat hat der Sturz der arabischen Diktatoren auch in Europa mit der
       Flüchtlingskrise und den Anschlägen in Paris und anderen Orten einen
       Tornado ausgelöst. Der Effekt von Schmetterlingsschlägen kennt
       offensichtlich keine Grenzen, das müssen auch jene erkennen, die in Europa
       immer noch hoffen, sich abschotten zu können. Denn ob wir wollen oder
       nicht, die europäischen und arabischen Staaten sind eine
       Schicksalsgemeinschaft. In unserer benachbarten arabischen Welt liegt
       unsere größte Tankstelle, dort entscheiden sich Fragen, die die europäische
       Sicherheit betreffen, dort wird die Verzweiflung als wesentliches Motiv
       immer größer sein als der höchste Abwehrzaun.
       
       „Al-Gar aham min al-Dar – Der Nachbar ist wichtiger als das Haus“, lautet
       ein arabisches Sprichwort. Will heißen, wenn du eine Wohnung suchst, schau
       dir zuerst an, neben wem du einziehen möchtest. Das Problem ist, dass das
       europäische Haus und die arabische Nachbarschaft eine feste geografische
       Größe ist, deren Mietvertrag sich nicht kündigen lässt.
       
       ## Oft blutig und brutal
       
       Bouazizi hat einen Prozess in die Wege geleitet, in dem die gesamte
       arabische Welt in zunächst hoffnungsvolle Bewegung geraten ist. Dann hat er
       auch Bürgerkriege wie in Syrien oder im Jemen, Staatsauflösungen wie in
       Libyen und vermehrte Unterdrückung wie in Ägypten verursacht. Überall
       werden die Gesellschaftsverträge und politischen Grundlagen derzeit neu
       ausgehandelt. Nicht, wie anfangs gehofft, auf friedliche, demokratische
       Weise, sondern oft blutig und brutal. Das Wegziehen des Deckels hat
       Konflikte ausbrechen lassen, die unter der Oberfläche schon lange gebrodelt
       haben, etwa der Streit über die Rolle von Religion in Staat und Politik. Es
       sind Konflikte, die ausgetragen und ausgehandelt werden müssen. Ein Ende
       dieses Prozesses, der Jahre dauern wird, ist nicht abzusehen.
       
       Die Bilanz dieses Jahres sieht eher hoffnungslos aus. Systeme kollabieren,
       heilige Krieger breiten sich aus, und ein nicht unwesentlicher Teil der
       arabischen Welt packt seine Taschen. Der syrische Bürgerkrieg eskaliert. In
       Libyen breitet sich der IS immer mehr im Windschatten eines Kampfes zweier
       Machtzentren aus, die sich beide als legitime Regierung ansehen. Im Jemen
       gibt es bisher in einem Krieg zwischen alter Regierung, unterstützt von der
       saudischen Luftwaffe und den Huthi-Rebellen, 6.000 Todesopfer. In einem der
       ohnehin schon ärmsten Länder der Welt hat der Krieg eine humanitäre
       Katastrophe ausgelöst, in der vier Fünftel der 21 Millionen Jemeniten nicht
       mehr ohne Hilfslieferungen über die Runden kommen.
       
       Und doch gibt es zum Ende des Jahres ein paar Funken Hoffnung. Denn überall
       macht sich das Gefühl breit, sich festgefahren zu haben, ob bei Regime und
       Rebellen in Syrien oder bei den Saudis und ihrem Jemenkrieg oder bei den
       streitenden Machtzentren in Libyen. Das, gepaart mit der Flüchtlingskrise
       und den IS-Anschlägen, hat dazu geführt, dass die arabische Welt nun
       international wieder ganz oben auf der Tagesordnung steht. Daraus folgt die
       Dringlichkeit, dass statt Waffen nun doch wieder die Politik übernehmen
       sollte.
       
       In einer UN-Syrien-Resolution wurden jetzt alle Seiten auf eine politischen
       Lösung eingeschworen. Die entsprechenden Gespräche sollen im Januar
       beginnen. Wichtige Kernfragen, ob mit oder ohne Assad verhandelt wird und
       wer denn nun die Opposition am Verhandlungstisch repräsentieren soll, sind
       aber noch nicht geklärt. Aber hinter den Kulissen gibt es Fortschritte.
       
       ## Schaut nach Libyen
       
       Neben Syrien dürfte sich der Blick nächstes Jahr mehr nach Libyen verlegen,
       wo der IS im Machtvakuum wächst und gedeiht. Heute wird bereits darüber
       spekuliert, ob die IS-Führung nach Sirte, in den einstigen Geburtsort
       Gaddafis, umzieht, wenn es im syrischen Rakka militärisch zu eng wird.
       
       Unter der Führung des deutschen Diplomaten Martin Kobler wurde jetzt
       zwischen den zerstrittenen libyschen Parteien in Tripolis und Tobruk ein
       Friedensabkommen unterzeichnet. Ob es hält, was es verspricht, und eine
       Regierung der Nationalen Einheit zusammengezimmert werden kann, weiß
       derzeit niemand zu sagen. Gelingt es, könnte diese Regierung vielleicht
       nicht nur den libyschen Staat wieder funktionstüchtig machen, sondern auch
       gemeinsam gegen die Dschihadisten des IS vorgehen. Schlimmstenfalls hat
       Libyen dann drei statt zwei Regierungen.
       
       Und Ende dieses Jahres trafen sich auch die jemenitischen Opponenten in der
       Schweiz. Erstmals saßen Vertreter des Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi,
       der in Aden residiert und die Huthi-Rebellen sowie Repräsentanten des
       ehemaligen Präsidenten Ali Abdulla Saleh, der diese mit seinen Restposten
       des alten jemenitischen Sicherheitsapparats unterstützt, an einem Tisch.
       Doch zunächst gelang es den Unterhändlern noch nicht einmal, einen
       eigentlich vereinbarten siebentägigen Waffenstillstand durchzusetzen. Die
       Verhandlungen, die angeblich trotzdem ein paar Fortschritte erbrachten,
       wurden unterbrochen und pausieren bis Anfang nächsten Jahres, der Krieg
       geht unvermindert weiter.
       
       All diese Gespräche, Waffenstillstands- und Friedensversuche, ob im Falle
       Syrien, Libyen oder des Jemen, bestehen aus mühevoller Kleinarbeit. Eine
       Erfolgsgarantie gibt es nicht. Aber es sind die ersten ernsthaften
       Versuche, die durch den Schmetterlingsschlag Bouazizis ausgelösten Stürme
       ein wenig zum Abflauen zu bringen.
       
       28 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
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