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       # taz.de -- Nach den Anschlägen in Paris: Reine Staatswillkür
       
       > In Frankreich gilt der Ausnahmezustand – mit einer fragwürdigen Bilanz.
       > Jetzt will die Regierung ihn in der Verfassung verankern. Das ist
       > alarmierend.
       
   IMG Bild: Alle sind verdächtig, alle werden durchsucht – der Ausnahmezustand sorgt für die Legitimation.
       
       Paris taz | Für die Justiz rechtfertigt der Zweck die unschönen Mittel.
       Selbst wenn der mit der Terrorbekämpfung begründete Notstand garantierte
       Grundrechte aushebelt und zu Missbrauch durch die Polizei führt, sieht
       Frankreichs Verfassungsgericht darin kein Problem. Beschwerden gegen die
       Einschränkungen der Freiheit aus Gründen der Staatssicherheit wurden
       abgewiesen.
       
       Das Kabinett hat kurz vor Weihnachten noch einen draufgesetzt und
       entschieden, die Ausnahmebestimmungen des Notstands in der Verfassung zu
       verankern. Künftig wäre es möglich, einem in Frankreich geborenen
       verurteilten Terroristen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, falls der
       Betroffene eine zweite Nationalität besitzt. Möglich wäre es dann auch,
       solche Personen nach Verbüßung einer Strafe an ein anderes Land
       auszuliefern. Für diese Änderung aber braucht es eine Verfassungsrevision.
       Darüber wird das Parlament Anfang Februar beraten.
       
       Die Zwischenbilanz der Polizeiaktionen sieht auf den ersten Blick
       beachtlich aus: Fast 3.000 Hausdurchsuchungen, in deren Verlauf insgesamt
       443 Waffen (darunter 41 „Kriegswaffen“ wie Kalaschnikow) sichergestellt
       wurden. 643 Menschen kamen vorübergehend in Gewahrsam oder wurden
       festgenommen, 51 inhaftiert. 384 Personen wurden unter Hausarrest gestellt.
       488 gerichtliche Verfahren wurden bislang eingeleitet.
       
       Im Vergleich zum Aufwand ist die Bilanz freilich fragwürdig. Nur bei 25
       angeordneten gerichtlichen Prozeduren besteht ein Zusammenhang mit
       Terrorismus, eine einzige Person ist wegen „Bildung einer kriminellen
       Vereinigung zu terroristischen Zwecken“ inhaftiert worden. Es handelt sich
       um einen 27-jährigen Tschetschenen, der sich in einem selbstgemachten Video
       zum „Islamischen Staat“ bekennt.
       
       Ganz vergebens waren die Hausdurchsuchungen nicht, denn immerhin konnten
       andere Delikte, namentlich in 167 Fällen illegaler Drogenbesitz sowie
       mutmaßliche Vergehen wegen Fälschungen oder Hehlerei, aufgedeckt werden.
       
       ## Verdächtigungen und Denunzierungen
       
       Beispiele von polizeilichem Übereifer beginnen sich zu häufen, sie[1][sind
       auf einem Blog des Le-Monde-Journalisten Laurent Borredon nachzulesen]. So
       die Geschichte von Hélène, die seit 2010 mit ihrem behinderten Kind
       getrennt von ihrem Expartner lebt. Dieser steht bei der Polizei in
       Verdacht. Durchsucht und von mehreren bewaffneten Beamten völlig auf den
       Kopf gestellt wurde aber nicht dessen Wohnung, sondern die von Hélène. Als
       sie später beim Kommissariat anfragte, wer für die angerichteten Schäden
       aufkomme, erhielt sie als Antwort: „Angesichts der Tatsache, dass Sie einen
       Verdächtigen beherbergt haben, besteht kein Anrecht auf Entschädigung. Das
       geschieht Ihnen recht. Au revoir, Madame!“
       
       Der 28-jährige Tunesier Z. ist von einem ehemaligen Arbeitskollegen der
       Polizei als gefährlicher Islamist gemeldet worden. Er habe sich „plötzlich
       radikalisiert“ und habe die Absicht, sich in Syrien dem Dschihad
       anzuschließen. Die Denunzierung reichte für eine Durchsuchung. Z. wurde
       unter Hausarrest gestellt. Später entschuldigte sich das Innenministerium
       schriftlich und hob den Arrest auf.
       
       Keine Entschuldigung gab es für ein Frauenhaus in Argenteuil bei Paris, wo
       am 8. Dezember gleich ein Dutzend Polizeibeamte „anklopften“ und bei einer
       Durchsuchung alles durchwühlten; eine anwesende Mutter und ihre 15-jährige
       Tochter wurden ebenfalls von Kopf bis Fuß kontrolliert. Als Grund wurde der
       Trägerverein der Notunterkunft, „Baytouna“, angegeben, in dem angeblich
       auch verdächtige Personen verkehrt hätten. Namen wurden aber keine genannt.
       
       Unter Hausarrest gestellt wurde auch der in der Nähe von Toulouse lebende
       30-jährige Mickaël L. „Man hat mir erklärt, ich sei ein radikaler Islamist
       und stünde in Verbindung mit einer Gruppe von Salafisten.“ Bei der Polizei
       war er deswegen in einer S-Datei der zu überwachenden Personen registriert.
       Er beteuerte zuerst vergeblich, er sei praktizierender Katholik, und zeigte
       den Beamten auch noch den tätowierten Rosenkranz auf seinem Arm. Obschon
       seine gerichtliche Beschwerde abgewiesen wurde, intervenierte das
       Innenministerium zu seinen Gunsten. „Jetzt kann ich mit der Familie
       Weihnacht feiern, ohne zweimal am Tag auf dem Kommissariat stempeln zu
       gehen“, freute sich L.
       
       29 Dec 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://delinquance.blog.lemonde.fr/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Balmer
       
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