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       # taz.de -- Kommentar Jahreswechsel: Vergesst 2016!
       
       > Kein Mensch brauchte 2015. Und 2017 wird genauso unnötig wie 1994 war.
       > Oder 432 vor Christus. Ja, aber? Ach. Machen Sie sich frei.
       
   IMG Bild: Also schaffen wir sie ab, die Zeitrechnung. Ach was, die Zeit an sich!
       
       Dies ist ein Plädoyer zur Abschaffung der Zeit. Sie ist unnütz, eine Geißel
       der Menschheit. Klingt skurril? Weil, woher weiß man dann, wann der Zug
       abfährt? Wann man geboren ist? Wann Lemmy Kilmister seine Auferstehung
       plant? Ach. Machen Sie sich frei. Seien Sie doch nicht so spießig.
       
       Beginnen wir mit einer Problemanalyse: Zeitrechnung ist ein
       Herrschaftsinstrument. Unser Kalender fußt auf dem Foltertod eines antiken
       Rabbiners, mit dem sich nur eine Minderheit der Menschheit identifiziert.
       Egal, wohin sich diese christliche Zeitrechnung ausbreitete, sie folgte
       stets als Schlusspunkt von Unterwerfung und Assimilation.
       
       Zugegeben, heute ist eine globale Zeitrechnung ganz praktisch. Aber wenn
       schon, dann bitte eine, mit der sich alle identifizieren können. Die
       allgemeine Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 wäre ein
       schönes Jahr null – da müsste man auch Weihnachten nur marginal um zwei
       Wochen verschieben.
       
       Aber merken Sie was? Auch da steckt noch dieses Teleologische dahinter. Das
       Streben nach einem Zielpunkt, nach einem Ende der Geschichte, nach einem
       idealen Zustand in der Zukunft. Und wer so einen definiert, der formuliert
       einen Herrschaftsanspruch. Egal ob im Namen einer Religion, einer
       Wirtschaftsordnung oder einer metaphysischen Idee. Also schaffen wir sie
       ab, die Zeitrechnung. Ach was, die Zeit an sich!
       
       ## Einfach so. Ohne Silvesterdruck
       
       Wer künftig das Verrinnen selbiger feiern will, der soll es tun. Nur zu,
       jederzeit. Einfach so. Ohne Silvesterdruck. Wann Ihnen eben danach ist.
       Warten auf einen Zug? Wundervoll, verteilen Sie Kekse, reden Sie mit den
       Menschen am Bahnsteig. Ein Zug wird fahren. Streichen Sie die Zeit aus
       Ihren Kreditverträgen und Ihrer Riesterrente und aus sonst allem – weg ist
       der Zins, der stille Diktator der Geldeliten.
       
       Kaufen Sie Ihren Kindern Spielsachen losgelöst von den Quartalsbilanzen von
       Disney oder Lego. Gedenken Sie der Toten, die Ihnen wichtig sind, und nicht
       derer, die gerade Sterbejubiläum haben. Laden Sie nachts nicht Ihren Akku
       auf, um am nächsten Tag wieder zu funktionieren. Schlafen Sie einfach gut.
       Stehen Sie auf, wenn die Sonne aufgeht, und nicht, wenn die Zeit es
       befiehlt.
       
       Ja, aber. Muss ein Arzt nicht pünktlich zum Dienst erscheinen, sonst
       sterben die Patienten? Ja gut, kann er doch. Ist Zeit nicht alternativlos,
       sonst greifen die feinen Zahnrädchen unserer wohlorganisierten Gesellschaft
       nicht mehr ineinander? Als ob das unser Problem wäre. Aber bitte, falls
       Ihnen die Abschaffung der Zeit zu radikal ist: 2016 weniger Zahnrad und
       mehr Mensch sein, das ist doch auch ein Vorsatz. Sie schaffen das.
       
       31 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arzt
       
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