URI: 
       # taz.de -- Künstliche Intelligenz: Professor Helbing und seine Mission
       
       > Dirk Helbing will mit künstlicher Intelligenz die Welt handhabbar machen.
       > Der Physiker knüpft dazu seit Jahren weltweit ein Netzwerk.
       
   IMG Bild: Ein Violinkonzert eigener Art in Bangkok
       
       Professor Doktor Doktor Dirk Helbing lebt in der Zukunft. Die Welt vor
       seinem inneren Auge sieht in etwa so aus: Menschen, gehüllt in interaktive
       Kleidung, die beispielsweise Informatiker von Google und Textilingenieure
       von Lewis entwickeln und die digitale Abbilder unserer Körper erzeugen.
       Armbänder ergänzen Gesundheitsdaten.
       
       Alles kommuniziert miteinander, alles sendet Daten: Das „Internet der
       Dinge“ nennt sich das im PR-Sprech. Wohnungen, in denen Geräte per Gedanken
       steuerbar werden, wo sich die Heizung einschaltet, wenn die Bewohner
       frieren, weil intelligente Algorithmen Gehirnwellen interpretieren lernen –
       Forscher der türkischen Gazi Universität arbeiten daran.
       
       Der Economist schätzt, dass bis 2020 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung
       Smartphones besitzen, die ununterbrochen verschiedenste Daten emittieren.
       Cisco geht bis 2020 von 50 Milliarden Sensoren aus, Huawei von 100
       Milliarden, die permanent Daten ausspucken, die Rückschlüsse auf das
       Verhalten von Menschen ermöglichen und die soziale Welt in eine messbare
       Matrix überführen – in Echtzeit. Das ist als Erklärung nötig, um zu
       verstehen, was Dirk Helbing tut.
       
       „Wir leben in einer Welt mit komplexen Problemen“, sagt er bedächtig.
       Tatsächlich aber ist er sehr beunruhigt. Er spricht in langen Monologen von
       der Finanzkrise, Ebola, internationalen Spannungen und Fluchtbewegungen.
       Apokalyptisch klingt das manches Mal. Helbing muss sich dann selbst sagen,
       dass dies alles noch in den Griff zu bekommen ist. Dazu nun sollen die
       Daten analysiert werden. Sie sollen helfen, das Chaos der immer komplexer
       werdenden Welt in den Griff zu bekommen. Das ist Helbings Mission.
       
       ## Soziale Physik
       
       Der stets penibel gekleidete Mann mit exzentrischer Frisur sitzt in einem
       Café in Berlin und bereitet sich auf einen Vortrag vor, den er bei der
       Konferenz zum Jahrestag des Mauerfalls zwei Tage später halten wird. 20
       internationale Wissenschaftler sind geladen, Saskia Sassen und mehrere
       Nobelpreisträger geben in viel zu kurzer Redezeit leicht verdauliche
       Häppchen ihrer Forschungsschwerpunkte wieder. Helbing wird über sein
       wichtigstes Thema reden: das „planetare Nervensystem“, an dem er seit
       Jahren arbeitet. Ein System, das die Folgen zunehmender Komplexität
       mithilfe intelligenter Datenanalyse einhegen soll. Am Ende seines Vortrags
       breitet er die Arme aus wie ein Prophet, der die Offenbarung verkündet.
       Applaus.
       
       Ein Zoom in Helbings Welt: Kontinente, Länder, Städte, einzelne
       Straßenzüge. Die sich bewegenden Punkte sind Menschen. Jeder Punkt
       aufschlüsselbar, mit mehr Details, die sich mit Informationen von Twitter
       oder Facebook verbinden lassen, wo 1,5 Milliarden Menschen sich permanent
       mitteilen. Korrelationen von Daten, aus denen intelligente Algorithmen von
       Versicherungen, Banken oder der NSA künftiges Verhalten ganzer
       Bevölkerungen prognostizieren. Die Ausbreitung der Grippe, die Entstehung
       von Aufständen oder Revolutionen oder künftiges Wahlverhalten:
       vorhersehbar. Eine Art soziale Physik wird mithilfe leistungsstarker
       Systeme sichtbar. Künstliche Intelligenz revolutioniert unsere Welt.
       
       Helbing glaubt, von solchen Systemen sollten nicht nur Geheimdienste oder
       Datenoligarchen wie Alphabet/Google profitieren, die diese Technik nutzen,
       um permanent ihren Wissensvorsprung vor Europa auszubauen. Dirk Helbing
       möchte solche Technologien und Erkenntnisse der Allgemeinheit zugänglich
       machen.
       
       Der Sohn einer deutschen Beamtenfamilie promovierte an der TU Dresden in
       theoretischer Physik über die Dynamik von Fußgängerströmen. Er verknüpfte
       Sozialwissenschaften mit Physik und begründete so ein eigenes
       Forschungsfeld mit. Er weiß um seine Leistung, weist darauf hin, dass seine
       Arbeiten zu den am meisten zitierten der wissenschaftlichen Community
       zählen.
       
       ## Die geliebte Mathematik
       
       Helbing analysierte Verkehrsströme, entwickelte Ampelsysteme, die sich
       lokal selbst regulieren und besser funktionieren als mit zentraler
       Steuerung. Seine Forschung machte ihn international bekannt, und er wurde
       eines der jüngsten Mitglieder der Leopoldina, „der ältesten Wissensakademie
       der Welt“, wie es in der Selbstdarstellung heißt, der elitäre Club der
       deutschen Spitzenforschung. Mittlerweile leitet der hochgewachsene Mann, 50
       Jahre alt, den Bereich Computational Social Science an der ETH Zürich, eine
       Informatik der Sozialwissenschaften.
       
       Der Schlüssel zur Welt ist für Dirk Helbing die Mathematik, die er liebt.
       Er spricht von der „Bolzmann-Gleichung“, kennt sich mit Spieltheorie aus
       und verwendet solche Verfahren, um beispielsweise die physikalischen
       Muster, die bei Massenpaniken entstehen, zu ergründen. Phänomene, die sich
       zwischen den Individuen abspielen und Effekte erzeugen, die über das
       individuelle Verhalten hinausgehen. Dynamiken, die sich bereits vor einer
       Panik identifizieren lassen. Auf der Basis seiner Arbeiten wurden
       architektonische Veränderungen in Mekka entwickelt, um die Wallfahrt
       sicherer zu machen.
       
       Wie bei Stoffwechselprozessen könnten Systeme lange stabil erscheinen, bis
       sie plötzlich kollabierten. Das deutet sich in Kaskaden an – wie die
       Finanzkrise. „2007 hatte ich schon alle meine Aktien verkauft. Zuvor waren
       mir kritische Schwankungen an den Aktienmärkten aufgefallen“, sagt Helbing.
       Mit den explodierenden Datenuniversen lassen sich nun auch immer mehr
       soziale Prozesse beobachten, die zuvor unsichtbar waren.
       
       Für Dirk Helbing steckt darin eine der größten Gefahren und eine der
       größten Chancen. Sein „planetares Nervensystem“, eine künstliche
       Intelligenz, soll sich aus den Datenströmen der Menschen speisen, dezentral
       funktionieren und partizipativ. Jeder soll selbst entscheiden können,
       welche Daten zu welchem Zweck zur Verfügung gestellt werden. Alle
       entstehenden Daten sollten in persönlichen Datenboxen gesammelt werden,
       damit transparent über deren Weitergaben entschieden werden könnte.
       Demokratisch genutzt würden Geschäftsfelder jenseits der US-Monopole von
       Uber, AirBnB oder Facebook entstehen.
       
       ## Überall Kaskadeneffekte
       
       Helbing reist wie ein Missionar dafür um den Globus, nach Finnland, Japan,
       Korea und die USA. Dort lehrt auch Helbings Vorbild, einer der meist
       zitierten Computerwissenschaftler der Welt, der Alex Pentland heißt.
       Toshiba-Professor des Media-Lab des Massachusetts Institute of Technology
       (MIT).
       
       Pentland fing damit an, mit Sensordaten soziale Regelmäßigkeiten zwischen
       Individuen zu messen, verborgene Ordnungen – vergleichbar mit dem
       Schwarmmuster von Heringen. Aber eben nicht nur Bewegungen, sondern auch
       die Ausbreitung von Ideen lässt sich mit Algorithmen sichtbar machen wie
       rote und weiße Blutkörper unter dem Mikroskop.
       
       Pentland schreibt: „Wir müssen unsere neuen Technologien nutzen, um ein
       ‚Nervensystem‘ zu entwickeln, das dabei hilft, die Stabilität von
       Regierungen, Energie und des öffentlichen Gesundheitssystems auf der ganzen
       Welt aufrechtzuerhalten.“
       
       Helbings Welt ist also gar nicht so weit weg. Denn die Instabilitäten
       nehmen zu, die Kaskadeneffekte, wie er das nennt: Klimawandel, Kriege,
       öknomische Konflikte, digitale Angriffe auf kritische Infrastruktur.
       
       Wenn so viele Milliarden in die Erforschung von Materie investiert werden,
       wie dies am Genfer Forschungszentrum Cern geschieht, dann sollte ebenso
       viel Energie in das Verständnis des sozialen Zusammenlebens gesteckt
       werden, findet Helbing. Ein Cern der Soziologie sei nötig.
       
       ## Die globale Gemütslage der Welt
       
       Die Bürger selbst sollten entscheiden, welche Daten sie zur Verfügung
       stellen, die sich zu einem „planetaren Nervensystem“ auswachsen. Aus
       „sozialen“ Medien, Tweets, SMS, Telefongesprächen und Metadaten bildet sich
       die globale Gemütslage der Welt ab. Anonymisiert, dezentral gesteuert und
       von Supercomputern zu einem Simulationsmodell fusioniert, das Regierungen
       beraten soll. Das ist Helbings Traum.
       
       Helbing reist weiter um die Welt und versucht, für sein futuristisch
       klingendes Vorhaben zu werben. Mittlerweile formuliert er seine Warnungen
       vor dem Missbrauch solcher Technologien immer deutlicher. Er
       veröffentlichte mit Kollegen wie Gerd Gigerenzer, Direktor am
       Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, ein „digitales Manifest“. Darin
       warnen die prominenten Wissenschaftler gemeinsam vor dem zentralistischen
       Einsatz solcher Systeme, mit denen Menschen durch Algorithmen steuern
       ließen. Mithilfe von künstlicher Intelligenz könnte es zu „einer
       Automatisierung der Gesellschaft mit totalitären Zügen“ kommen, heißt es
       da. „Im schlimmsten Fall droht eine zentrale künstliche Intelligenz zu
       steuern, was wir wissen, denken und wie wir handeln.“
       
       Ähnliche Warnungen kamen zuerst in den USA auf. Der Physiker Stephen
       Hawking, Tesla-Gründer Elon Musk oder Bill Gates sensibilisierten die
       Öffentlichkeit seit 2014 für das Risikopotenzial künstlich intelligenter
       Systeme. Für Hawking: die größte Bedrohung der Menschheit.
       
       Helbing sagt: „Die Politik hat gerade erkannt, dass manipulative
       Technologien unter Nutzung von künstlicher Intelligenz gravierende
       Nebenwirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Die Souveränität von
       Individuen, Unternehmen und Staaten ist bedroht. Man wird sich beeilen,
       schnell ein neues digitales Gesellschaftsmodell auf den Weg zu bringen.“
       Helbing könnte helfen.
       
       2 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kai Schlieter
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR CERN
   DIR Google
   DIR Haushaltsgeräte
   DIR Google
   DIR Pentagon
   DIR Smartphone
   DIR Stephen Hawking
   DIR Roboter
   DIR Smartphone
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwerpunkt Überwachung
   DIR Cyborg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Menschen und Maschinen: Die Roboterfabrik
       
       Der chinesische Gerätehersteller Midea schluckte die deutsche Firma Kuka.
       Besuch bei einem Konzern, der Robotern das Lernen beibringt.
       
   DIR Debatte Klimawandel: Die Weltrettungsmaschine
       
       Können Algorithmen vor dem Untergang retten? Gegen den Turbofeudalismus aus
       Silicon Valley brauchen wir einen linken Optimismus der Technik.
       
   DIR Besuch im Cern: Ein utopischer Ort
       
       Der weltgrößte Teilchenbeschleuniger Cern geht wieder in Betrieb. Was hier
       erforscht wird, verändert unser Bild von der Welt.
       
   DIR Wertvollstes Börsen-Unternehmen: Alphabet schlägt Apple
       
       Google-Mutter Alphabet hat Apple den Rang als teuerstes Unternehmen der
       Börsenwelt abgelaufen – obwohl der Konzern in einigen Sparten hohe Verluste
       macht.
       
   DIR Technische Revolutionen: Gut, dass es Waschmaschinen gibt!
       
       Das Internet ist die wichtigste Erfindung aller Zeiten? Unsinn, sagt der
       Ökonom Chang Ha-joon. Ein einfaches Haushaltsgerät ist viel bedeutender.
       
   DIR Computer besiegt Mensch: Go, Google, Go!
       
       Das Spiel Go galt als größte Herausforderung für künstliche Intelligenz.
       Jetzt gelang es einem Computer erstmals gegen einen Profi-Spieler zu
       gewinnen.
       
   DIR Nachruf auf Marvin Minsky: Der Uropa künstlicher Intelligenz
       
       Vom menschlichen Verstand hielt er nicht viel. Marvin Minsky brachte
       Maschinen das Lernen bei – und wurde zum Wegbereiter künstlicher
       Intelligenz.
       
   DIR Studierende und ihre Handys: Aufmerksamkeitskiller Smartphone
       
       Smartphones lenken ab, führen sogar zu schlechteren Leistungen. Dennoch
       setzen Hochschulen vermehrt auf den Smartphone-Einsatz.
       
   DIR Astrophysiker warnt vor Weltuntergang: Hawking misstraut dem Fortschritt
       
       Eindringlich warnt Stephen Hawking vor den tödlichen Gefahren des
       Fortschritts – ob künstliche Intelligenz oder Gentechnik. Und nennt sich
       trotzdem Optimist.
       
   DIR Maschinen geben Sprachunterricht: Roboter mit Lehrauftrag
       
       Roboter könnten bald Sprachunterricht geben. Ob sie auch zu emotionalen
       Bindungen fähig sind, wird an der Universität Bielefeld erforscht.
       
   DIR Drosselung der Smartphone-Nutzung: Glück statt Glotzen
       
       Alle 18 Minuten greifen wir zum Smartphone – das macht uns unglücklich,
       sagt der Informatiker Alexander Markowetz. Und empfielt eine Diät.
       
   DIR Fremde stranden am Flensburger Bahnhof: Gesichtskontrolle am Gleis
       
       Die dänische Bahn weigerte sich, Wissenschaftler aus Sri Lanka zu
       befördern, weil das Kontingent an Flüchtlingen für den Tag schon erschöpft
       war.
       
   DIR Berechnung des Alltags: Wir sind Algorithmen-Zombies
       
       Algorithmen steuern uns alle fern. Sie bestimmen Entscheidungen, ohne dass
       wir es merken, und machen uns so manipulierbar.
       
   DIR Technikforscher über neue Intelligenz: „Eine typische Vermenschlichung“
       
       Die Rechenleistung von Maschinen überholt das menschliche Gehirn. Von
       „neuer Intelligenz“ will Technikforscher Christopher Coenen nicht sprechen.