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       # taz.de -- Britischer Musiker und Philosoph Kode9: Musik als Virus
       
       > Zwingende Klangfiktion vom Elektronikproduzenten und Labelbetreiber Steve
       > Goodman alias Kode9 auf seinem Album „Nothing“.
       
   IMG Bild: Geizt mit Augenlicht: Der gebürtige Schotte Steve Goodman alias Kode9
       
       David Foster Wallace schrieb einmal, dass der Vorteil des Telefonierens
       darin liege, „bilaterale Illusion unilateraler Aufmerksamkeit“ zu erzeugen.
       Sie mache es möglich, in „den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit eines
       Menschen zu kommen, ohne sie erwidern zu müssen“. Videotelefonie „ließ
       diese Fantasie kollabieren“.
       
       Dass der britische Elektronikproduzent Steve Goodman alias Kode9 das
       Skype-Interview ohne Bild vorzieht, war nicht anders zu erwarten. Nun ist
       davon auszugehen, dass es dem Musiker, Autor, DJ, Philosophen und
       Soundkünstler aus London nicht im Sinne von Wallace darum geht,
       Aufmerksamkeit unerwidert zu lassen. Vielmehr ist der Punkt mit der
       Fantasie relevant. Denn bei allem, was der Labelbetreiber von „Hyperdub“
       macht, der wichtigsten unabhängigen Plattenfirma für zeitgenössische
       elektronische Musik, ob er selbst Musik veröffentlicht oder schreibt: Immer
       geht es Goodman darum, das Offensichtliche zu verbergen. So ist ihm Sound
       wichtiger als dessen visuelle Verpackung.
       
       Goodmans neues Album unter dem Signet Kode9, „Nothing“ betitelt, knüpft an
       diese Idee an. Nicht nur der Titel, auch die Musik bleibt seltsam vage. Es
       sind Skizzen rhythmisch vertrackter Clubmusik, die lose im Raum schweben.
       Auch weil sie die üblichen Klangsignaturen der von Kode9 gerne zitierten,
       und maßgeblich mitgestalteten Stile wie Dubstep, Footwork und Jungle und
       die warmen Flächen alter Science-Fiction-Soundtracks, nur streifen.
       
       Goodmans Vorliebe für Halbtonschritt-Melodien und ihre verführerische
       Melancholie, etwa im Track „Notel“, und die Vorliebe für rhythmische
       Experimente wie in den beiden stolpernden, aber nie stürzenden Tracks
       „Void“ und „Zero Work“ sind deutlich zu hören. Genauso wie die düsteren
       Klangtexturen, zu der sich inzwischen noch eine Prise digitaler Kälte
       gesellt hat.
       
       ## Flüchtige Erinnerungen
       
       Bis auf das zehnminütige „Nothing lasts forever“, bei dem ein leises
       Grundrauschen erklingt, dauert keiner der Tracks länger als zwei Minuten.
       Die Musik wirkt wie flüchtige Erinnerungen, die wolkenartig vorbeiziehen.
       „Das Bild trifft es“, antwortet die Stimme ohne Gesicht. Goodman, dessen
       schottischer Akzent, der – dem Sächsischen nicht unähnlich – jeden Vokal in
       eine Melodie kleidet, hat „Nothing“ sehr schnell komponiert. Alle Tracks
       wurden im Januar dieses Jahres eingespielt und produziert. Dafür schloss er
       sich über Wochen in ein Studio ein.
       
       Diese Isolation war lebensnotwendig. Nachdem im April 2014 mit dem
       Chicagoer Footwork-Pionier DJ Rashad ein großer Clubmusik-Innovator und
       Hyperdub-Künstler verstarb, traf es nur wenige Monate später Goodmans
       unheilbar an Krebs erkrankten Freund und MC Stephen Gordon alias The
       Spaceape. Mit ihm sind die beiden vorherigen Kode9-Alben „Memories of the
       future“ und „Black Sun“ entstanden. Gordons Tod hinterließ eine Leere.
       
       Goodman beschloss kurzerhand, das Unglück künstlerisch zu verarbeiten. Also
       beschäftigte sich der gebürtige Glasgower mit philosophischen und
       mathematischen Fragen des Nichts. Dennoch, „Nothing“ handelt nicht von
       „Nichts“. Schon merkwürdig, wie überladen das Nichts mit Bedeutungen sei,
       erklärt Goodman. Der Titel sei einerseits vom irdischen Nichts, also auch
       vom Tod inspiriert, aber auch von der Lektüre mathematischer Bücher. Ein
       Track heißt „Casimir Effect“, benannt nach dem quantenpysikalischen Effekt,
       der entsteht, wenn zwei in einem Vakuum gegenüberstehende Metallplatten
       sich gegenseitig anziehen, weil selbst im vermeintlichen Nichts sich kleine
       virtuelle Teilchen befinden.
       
       ## Vollautomatisierter Luxuskommunismus
       
       „Das Nichts und der Tod scheint der Hauptmotor des Kapitalismus zu sein“,
       sagt Goodman. Es erinnert wohl nicht zufällig an Nietzsches
       Existenzphilosophie, der zufolge das Nichts ein Indikator für die
       Einsamkeit des Menschen ist. Die philosophische Reflexion des Zeitgeistes
       war schon immer wichtig für den studierten Philosophen, der mehr als zehn
       Jahre an der University of East London lehrte. Zurzeit beschäftigt sich
       Goodman mit neuen linken philosophischen Strömungen wie dem
       Akzelerationismus und der dort kursierenden Idee des vollautomatisieren
       Luxuskommunismus.
       
       Passend dazu ziert das Cover von „Nothing“ eine Zeichnung des „Notel“,
       einer von Goodman zusammen mit dem Multimedia-Künstler Lawrence Lek
       entwickelten Studie eines Luxushotels aus dem Jahr 2085. Es wird von
       Robotern betrieben und ist für eine Gesellschaft gedacht, in der Arbeit
       nicht mehr notwendig ist.
       
       Goodmans Hang zum Konzeptuellen ist keine frivole Geste, sondern Teil
       seiner „sonic fiction“, die er in den 90er Jahren als Mitglied der
       Forschergruppe CCRU an der Universität Warwick zusammen mit den
       renommierten KulturtheoretikerInnen Sadie Plant, Mark Fisher und dem
       zuletzt für den Turner Prize nominierten afrobritischen Autor Kodwo Eshun
       entwickelte. Als konspirativ agierende Denker brachten sie zu einem frühen
       Zeitpunkt Themen wie Kybernetik, Internetkultur, Science Fiction und
       elektronische Musik zusammen und prägen den Diskurs der britischen
       Kulturwissenschaften bis heute. Ohne die Vorarbeit des CCRU gäbe es etwa
       auch keinen Akzelerationismus.
       
       ## Klassische Dystopien
       
       In den Neunzigern ging es noch um das Dancefloorgenre Jungle, das Goodman
       zufolge aufgrund seiner damals revolutionären Technologien zur Erzeugung
       neuer Klänge „ein perfektes Beispiel für kybernetische Mutationen in der
       Kultur war“. Jungle stand als positives Beispiel direkt neben den
       klassischen 90er-Jahre-Dystopien „Terminator“ und „Blade Runner“, die in
       der heutigen von Überwachung und Paranoia geprägten Gesellschaft aktueller
       sind als je zuvor. CCRU war nicht nur der Inkubationsraum für zentrale
       zeitgenössische Denker und Künstler, sondern auch für die Idee von
       „Hyperdub“, das der 42-Jährige vor elf Jahren von einem Onlinemagazin in
       ein Label transformierte.
       
       Der Name bezeichnet eine Art Virus, eine Idee, die er in seinem 2010
       erschienenem Buch „Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear“
       weiterdachte. „Musik ist in digitaler Form nichts anderes als Information.
       Ich verstehe Hyperdub als Virus, der mich nutzt, um sich zu verbreiten.“
       Das ist gelungen. „Ja, aber es tötet dich dabei auch ganz langsam“, schiebt
       Goodman lakonisch hinterher.
       
       Sein Label ist mit seiner Förderung von Clubmusik und Avantgarde nicht nur
       musikalisch fortschrittlich. Mit Ikonika, Jessy Lanza oder Laurel Halo hat
       es im Vergleich zu den anderen britischen Elektronik-Labels erstaunlich
       viele internationale Künstlerinnen unter Vertrag. Für Goodman war dies
       keine Frage der Quote, sondern einfach nur eine Frage guter Musik, die er
       von den Künstlerinnen geschickt bekam. Goodman hat die elektronische
       Clubmusik der letzten Dekade nicht nur maßgeblich beeinflusst und
       verändert, sondern auch, wie man darüber spricht, denkt und schreibt.
       
       Sein Schaffen ist eine Art Gesamtkunstwerk, bei dem alles ineinandergreift:
       Das Label, der eigene Sound, sein philosophisches Denken und Publizieren,
       aber auch seine äußere Erscheinung. Seit vielen Jahren sieht man den
       Querdenker auf Fotos immer mit Sonnenbrille und Camouflagekleidung. Was hat
       das zu bedeuten? „Ich mag keine Fotos, aber irgendwann musste ich einen
       Kompromiss eingehen. Ihr könnt meinen Körper haben, aber nicht meine
       Augen“, sagt er und lacht. Und die Kleidung? „Jede neue Technologie stammt
       ursprünglich aus der Militärforschung. In meinem Buch schreibe ich über
       deren künstlerische Aneignung. Das interessiert mich auch in modischer
       Hinsicht.“
       
       Es gehe darum, das Militärische in etwas Schönes zu verwandeln. Eine
       Vorstellung, die auch seinen Kosmos zusammenfasst. Hyperdub ist auch ein
       utopischer Raum, in dem es stets etwas besser, friedlicher und gerechter,
       weniger grell und dennoch intensiver zugeht als im Rest der Welt. Mehr ist
       von einem Label heute nicht zu erwarten.
       
       25 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Rhensius
       
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