URI: 
       # taz.de -- Gewalt an Frauen: Das Erbe der Jyoti Singh
       
       > Vor drei Jahren starb eine Frau in Neu-Delhi nach einer
       > Gruppenvergewaltigung. Warum kommt es in Indien immer wieder zu
       > Gewaltexzessen?
       
   IMG Bild: Lassen sich nicht mehr den Mund verbieten. Indische Frauen protestieren seit drei Jahren laut für ihre Rechte
       
       Es ist der dritte Jahrestag, an dem die tödliche Gruppenvergewaltigung von
       Neu-Delhi in Indien wieder sehr präsent ist. In diesen Tagen soll einer der
       Täter vom 16. Dezember 2013 wieder freikommen.
       
       Seit diesem Tag ist das Land nicht mehr dasselbe. Die 23-jährige Jyoti
       Singh war mit einem Freund auf dem Heimweg von einem Kinobesuch, sie
       stiegen gemeinsam in einen Minibus in der indischen Hauptstadt. Drinnen
       warteten sechs Männer, die den Begleiter der Auszubildenden bewusstlos
       schlugen.
       
       Eine Stunde lang wurde die Frau von der Gruppe vergewaltigt und dabei auch
       mit einer Eisenstange penetriert. Anschließend warfen die Täter die beiden
       jungen Leute auf die Straße und versuchten sie zu überfahren. Jyoti Singh
       starb Tage später an den Folgen ihrer inneren Verletzungen.
       
       Es kam zu wochenlangen Protesten in Indien, das Entsetzen in der ganzen
       Welt war groß. Aufgrund des Drucks verschärfte die indische Regierung unter
       Manmohan Singh das Sexualstrafrecht innerhalb von Monaten. Vier der Täter
       wurden zum Tode verurteilt.
       
       Doch seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Narendra Modi und seiner
       hindu-nationalistischen Regierung, hat sich die indische Politik wieder auf
       Hinhalten und Bagatellisieren verlegt. In dieser Woche ging der Vater von
       Jyoti Singh an die Öffentlichkeit.
       
       ## Die Opfer trauen sich nicht zur Polizei
       
       „Die Regierung hat die Zeit und das Geld, aber nicht den Willen, um etwas
       zur Verbesserung der Sicherheit von Frauen zu tun“, sagte er laut der
       Nachrichtenagentur afp. Eingeplante Gelder etwa für Überwachungskameras,
       Straßenlaternen in dunklen Gassen und mehr Polizeikräfte seien noch immer
       nicht ausgegeben worden. Und er kritisierte die geplante Freilassung eines
       der Angreifer, der zu einer Jugendstrafe verurteilt worden war und in den
       kommenden Tagen aus der Haft entlassen werden soll.
       
       „Fast jeden Tag lesen wir von Vergewaltigungen kleiner Mädchen“, sagte der
       Vater. „Wenn Verbrecher wie er freigelassen werden, sorge ich mich um das,
       was in der Gesellschaft passiert.“ Auch Frauenrechtsgruppen kritisierten
       die geplante Freilassung.
       
       In Indien wurden im vergangenen Jahr mehr als 36.700 Vergewaltigungsfälle
       registriert, davon rund 2.000 allein in Neu-Delhi. Experten gehen aber von
       einer viel höheren Dunkelziffer aus. Noch trauen sich wenige Opfer zur
       Polizei zu gehen, aus Angst vor Stigmatisierung und weiterem Leid. 98
       Prozent der Vergewaltigungen, sagt selbst die indische Behörde für
       Verbrechensstatistik (NCRB), geschehen im engsten Familien- und
       Bekanntenkreis. [1][Die Regierung Modi allerdings sperrt sich seit Monaten
       gegen Gesetzespläne, auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu
       stellen.]
       
       Ein solches Gesetz gefährde das Familiensystem und könne die Institution
       der Ehe zerstören, ist die Argumentation der Konservativen. Indische
       Politiker weisen auch darauf hin, dass die Vergewaltigungsrate weit unter
       der westlicher Länder liegt, nämlich offiziell nur bei 2,7 vergewaltigten
       Frauen pro 100.000 Einwohner. In Schweden dagegen liegt die Rate bei 58,9.
       Darauf [2][wies sogar Indiens Frauenministerin Aneka Gandhi hin], die sonst
       keine Auseinandersetzung mit Kabinettskollegen scheut, auch über die
       Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe.
       
       ## Blutige Binden als Protest
       
       In den vergangenen drei Jahren aber hat sich im Land eine sehr kämpferische
       Frauenbewegung etabliert. Vor einem Jahr riefen Aktivistinnen im
       südindischen Kerala online dazu auf, sich öffentlich zu küssen. Obwohl es
       zu Festnahmen kam, breiteten sich die Kiss-ins über den ganzen Subkontinent
       aus, auch dank des Internets, die Proteste wurden nach dem Hashtag
       [3][#kissoflove] benannt.
       
       In diesem Jahr setzten die Frauen noch eins drauf. Sie riefen mit dem
       Slogan: [4][Red alert – you have a napkin] (Roter Alarm– Sie haben eine
       Einlage) dazu auf, blutige Binden an eine Fabrik für Einweghandschuhe zu
       senden. Alle 42 Frauen der Fabrik waren dort einer Leibesvisitation
       unterzogen worden, nachdem auf einer Toilette eine gebrauchte Binde
       gefunden worden war. Menstruierende Frauen gelten Hinduisten als „unrein“.
       
       Ziel der Proteste ist die prüde Sexualmoral und das patriarchalische
       Frauenbild, die über Kastenzugehörigkeit, Religion oder Herkunft stehen.
       Wie tief sie in der Gesellschaft verwurzelt sind, belegte 2012 ein
       UNICEF-Bericht. Danach halten 57 Prozent der indischen Jungen und sogar 53
       Prozent der Mädchen den Ehemann für berechtigt, seine Frau zu schlagen.
       
       ## Brutalisiertes Bild
       
       Bildung und vor allem: Sozialkunde an den Schulen. Das halten Experten und
       Frauenrechtsgruppen für das entscheidende Mittel. Denn Männer beziehen ihr
       Wissen aus Pornos, die ein brutalisiertes Bild vermitteln. Für Frauen
       gehört es sich nicht, auch nur Fragen zu stellen.
       
       Auch unsere Autorin Katharina Finke sieht darin das entscheidende Problem.
       Sie hat in den vergangenen vier Jahren Indien regelmäßig bereist und mit
       vielen Frauen und Frauenaktivistinnen gesprochen.
       
       Lesen Sie ihren Report, in dem sie die Schicksale dreier Frauen vorstellt,
       die vom Ehemann vergewaltigt oder vom Vater missbraucht werden, und sich
       wehren, soweit sie können, in der neuesten Ausgabe der [5][taz.am
       wochenende vom 19./20. Dezember].
       
       18 Dec 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.huffingtonpost.com/entry/india-marital-rape_564d8c21e4b00b7997f9469e
   DIR [2] https://www.rt.com/news/261877-sweden-india-rape-statistics/
   DIR [3] https://twitter.com/hashtag/kissoflove
   DIR [4] https://en.wikipedia.org/wiki/Napkin_protest
   DIR [5] /Ausgabe-vom-19/20-Dezember-2015/!161555/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörn Kabisch
       
       ## TAGS
       
   DIR Indien
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Sexualkunde
   DIR Feminismus
   DIR Indien
   DIR Indien
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Sexualisierte Gewalt
   DIR Indien
   DIR Indien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Inderin vergewaltigt und ermordet: Proteste gegen die Polizei
       
       In Indien ist eine Studentin vergewaltigt und ermordet worden.
       Demonstranten glauben, dass die Behörden untätig blieben, weil das Opfer
       als „kastenlos“ gilt.
       
   DIR Tödliche Vergewaltigung in Indien: Angreifer aus Haft entlassen
       
       Vor drei Jahren sorgte eine tödliche Gruppenvergewaltigung in Indien
       weltweit für Empörung. Jetzt ist einer der Täter wieder frei.
       
   DIR Weltweiter Tag gegen Gewalt an Frauen: Keine Märchenhochzeit
       
       Jährlich werden 14 Millionen Mädchen minderjährig verheiratet – manche auch
       in Deutschland. Terre des Femmes will dem ein Ende setzen.
       
   DIR Gewalt gegen Frauen in Indien: Hier spricht der Vergewaltiger
       
       Ein zum Tode Verurteilter rechtfertigt in einem Film seine Tat. Der Film
       wird verboten – und die notwendige Debatte über Frauenrechte abgewürgt.
       
   DIR Vergewaltigungen in Indien: Als Opfer nicht ernstgenommen
       
       Viele Vergewaltigungsopfer in Indien kämpfen mit den Folgen der Tat – und
       gegen die Polizei. Auch wenn Ausländerinnen beteiligt sind, gibt es selten
       Gerichtsurteile.
       
   DIR Vergewaltigung in Indien: Kotzen vor Wut
       
       Viele InderInnen empören sich über eine Vergewaltigung in ihrem Land, die
       zum Tod des Opfers führte. Wir reden drüber. Aber wann empören wir uns mit?