URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Die Scheißhausrevolution
       
       > Stille Orte adé - deutsche Autobahnraststättenklos werden endgültig zu
       > stilvollen Tempeln der Erlebnisdefäkation.
       
       Früher war der Besuch einer Autobahnraststätten-Toilette ein echtes
       Himmelfahrtskommando. Tödliche Keime, betrunkene Lkw-Fahrer und verkotete
       Armaturen sorgten dafür, dass Reisende lieber in die Büsche gingen. Seit
       der Tankstellenbetreiber Tank und Rast mit seiner Tochtergesellschaft
       Sanifair diverse Toilettenanlagen auf deutschen Autobahnen betreibt, ist
       der Besuch der sanitären Einrichtung zumindest nicht mehr
       gesundheitsgefährdend. Die Klos werden automatisch gesäubert, aus
       Lautsprechern erklingt Vogelgezwitscher und Bildschirme über den
       Waschbecken preisen die neuesten Konsumverlockungen.
       
       „Das geht schon in die richtige Richtung. Aber da ist noch Potenzial im
       Markt“, sagt der Selfmade-Unternehmer Charly Freiland. Über Jahrzehnte
       arbeitete Freiland erfolgreich als One-Hit-Wonder-Produzent, doch bei einer
       „längeren Sitzung auf der A7 Richtung Würzburg“ hat ihn, wie er es
       formuliert, „eine Eingebung ereilt“.
       
       „Seit Jahrhunderten ist der Stuhlgang gesellschaftlich tabuisiert. Hinter
       verschlossenen Türen untersagen sich die Menschen jegliche Freude und
       Flatulenz! Kein Wunder, die WCs sind doch schon verklemmt designt! Vom
       Donnerbalken bis zum modernen WC hat quasi keine Evolution stattgefunden!“
       Freiland echauffiert sich. Der korpulente Mittfünfziger will die Situation
       ändern. Er plant nichts geringeres als „die Revolution des öffentlichen
       Toilettengangs“. Das natürlichste menschliche Bedürfnis müsse endlich aus
       der Schmuddelecke geholt werden.
       
       Mit den Tantiemen aus seinem größten Hit „Eating cheese before we kiss“ hat
       Freiland jetzt eine Raststätte an der A2 bei Hannover erworben und testet
       dort sein neues Erlebnistoilettenkonzept. Auch bei Freiland muss der
       Reisende allerdings einen Bon gegen Geld erwerben. Damit kann er den
       sanitären Bereich betreten. Passiert er das Drehkreuz, fällt direkt eine
       große Fläche mit gemütlichen Sofas und Liegen ins Auge.
       
       ## Hinaus aus der Schmuddelecke
       
       „Wir wollen die Anspannung aus der Situation nehmen. Erstmal gemütlich
       machen und entspannen. Der Besucher soll möglichst schnell vergessen, warum
       er überhaupt gekommen ist. Unsere Servicekräfte reichen zur Zerstreuung
       verdauungsfördernde Shakes und bekömmliches Obst.“ Zwischen den Liegen hat
       Freiland Säulen aus Pappmaché aufstellen lassen – eine Hommage an das alte
       Rom.
       
       „Mein Konzept orientiert sich an den öffentlichen Latrinen der Antike.
       Cäsar wusste noch, wie man sich stilvoll entleert! Und warum die Zeit dabei
       nicht sinnvoll nutzen, sich mit seinem Nebenmann austauschen? Da kommt
       selbst der Oberstudienrat mit dem Hilfsarbeiter ins Gespräch.“
       
       Für die Kinder gibt es einen eigenen Abenteuerspielplatz. Spielerisch
       erfahren die Kleinen Wissenswertes rund um ihre Verdauung. So können sie
       sich beispielsweise durch einen lustig verzweigten Enddarm robben, an
       dessen Ende sie eine Verstopfung aus Bauklötzen beseitigen müssen.
       Kniffliger ist es schon, aus einem schweren 10-Liter-Kanister Säure auf
       Nahrungsmittel zu schütten, die in einem großen Plastikmagen auf ihre
       Zersetzung warten. Erfahrene Erzieher haben dabei jederzeit im Blick, wenn
       der Zeitpunkt gekommen ist, die kleinen Rabauken doch einmal Richtung
       Toilette zu schicken.
       
       Für die Erwachsenen hat Freiland ein innovatives Unterhaltungskonzept
       erarbeiten lassen. Am frühen Abend sollen im Sanitärbereich prominente
       Livebands auftreten. „Coldplay ist schon angefragt“, verrät der Unternehmer
       stolz. Mit einer Zusage sei zwar zu rechnen, doch so lange würden erst
       einmal lokale Bands spielen. Die Studentenband The Defecators aus Hannover
       covert beispielsweise Hits wie „Ring of Fire“, „I can’t get no
       satisfaction“ oder „Highway to Hell“.
       
       Der Toilettenbereich selbst ist minimalistisch gestaltet. In einem Kreis
       angeordnet befinden sich dort 15 Klos, die aus durchsichtigem Glas
       gefertigt sind. „Wir wollen maximale Transparenz! Denn nur auf dem
       Scheißhaus und vor Gott sind wir alle gleich!“, ruft Freiland
       überschwänglich, vergisst dabei seine bisherige Contenance. Er selbst
       verbringe hier die meiste Zeit des Tages, um seine Kunden noch besser
       kennenzulernen.
       
       In der Mitte des Klo-Runds steht Freilands größter Stolz: eine massive
       Holzbühne. „Kultur im Klo! Das ist unser Motto! Wir wollen Deutschlands
       größte Festspiel-Location werden. Vergessen Sie Bayreuth, Rock am Ring oder
       das Deutsche Theater! Hier wird Kulturgeschichte geschrieben!“
       
       ## Kulturort Abort
       
       Große Theater- und Opernproduktionen sollen bald ihren Weg in die
       Raststätte an der A2 finden. Freiland befindet sich nach eigener Aussage in
       intensiven Gesprächen mit den großen Theaterhäusern in Deutschland. Es gehe
       nur noch um geringfügige Details.
       
       Zurzeit tritt deshalb hier ein Newcomer-Comedyduo namens Stefan und Stephan
       auf, das sich auf flatulierende Oneliner spezialisiert hat. Jeden
       Mittwochnachmittag führt außerdem die Schülertheatergruppe des
       ortsansässigen Gymnasiums ihre sehr frei interpretierte Version von Max
       Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ auf, in der sich Biedermann
       während der gesamten Spieldauer auf seinem Klo verschanzt und über die
       Konsistenz seiner Ausscheidungen lamentiert.
       
       Freilands Geschäftsmodell will möglichst alle Interessengruppen
       berücksichtigen. Deshalb gibt es neben der kollektiven Entleerung auch noch
       immer die Möglichkeit, sich auf so genannte Individualklos in den Größen
       groß und klein zurückzuziehen. Allerdings gegen einen entsprechenden
       Aufpreis. Dafür bekäme der Besucher weiterhin viel geboten. Freiland hat
       prominente deutsche Poetry-Slammer und Club-DJs gewinnen können. Sie sollen
       jeden Kabinenbesuch zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.
       
       Daniela Schröder, die ihren Künstlernamen nicht nennen möchte, legt
       eigentlich im Berliner Kultclub Berghain auf. Seit dort an den Gagen
       gespart wird, ist sie froh über das zusätzliche Engagement. „Klar, das
       Soundsystem in den Kabinen ist jetzt kein Vergleich mit einem großen Club.
       Aber die Atmosphäre ist dafür irgendwie, ja, intimer. Ich bekomme hier
       einfach viel besser mit, wie das Publikum reagiert.“
       
       ## Aufgeheizte Stimmung
       
       Wer es beim Stuhlgang besonders dynamisch mag, der kann währenddessen auch
       einem DJ-Battle beiwohnen. Dann legt Schröder zusammen mit einem Kollegen
       in der Kabine auf. „Gut, das ist dann schon etwas eng – so zu dritt in den
       kleinen Dingern. Aber dafür heizt sich die Stimmung superschnell auf!“
       
       Fürwahr: Freiland bietet eine Fülle an Service und Unterhaltung. Allerdings
       muss der Besucher für jede Leistung einen separaten Bon ziehen. Bei einer
       Verweildauer von durchschnittlich vier Stunden kommt dabei ein stattliches
       Sümmchen zusammen, und nicht jeder hat die finanziellen Mittel, seinen
       Bedürfnissen auf Charly Freilands Toiletten nachzukommen.
       
       Draußen auf dem Parkplatz an der A2 hat sich deshalb eine kleine Gruppe von
       Aktivisten versammelt, die Raststätten-Besuchern Flyer mit der Aufschrift
       „Sei Teil der sozialen Revolution – komm‘ ins Gebüsch!“ in die Hand drückt.
       Gratis bieten sie geführte Touren in den Grünabschnitt hinter dem Parkplatz
       an.
       
       9 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nico Rau
       
       ## TAGS
       
   DIR Autobahn
   DIR Unternehmen
   DIR Toilette
   DIR Comic
   DIR Fastfood
   DIR Flüchtlinge
   DIR CES
   DIR 2016
   DIR Wurst
   DIR Party
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: „Das Unglück“
       
       Der Wahrheit-Comic am Samstag.
       
   DIR Die Wahrheit: Die Burger-Revolution
       
       Der Kampf gegen den Hipster-Imbiss hat begonnen. Otto-Normal-Esser wehren
       sich gegen die Kulinarifizierung.
       
   DIR Die Wahrheit: Zentrale des Grauens
       
       Eine Stadt am Abgrund. Einblicke in die Skandalmetropole Köln, in der
       selbst Tauben aggressiv auf Neuankömmlinge starren.
       
   DIR Der Geruchswecker kommt: Mit Morgen-Mett flott aus dem Bett
       
       Mit Espresso- oder Fleischduft geweckt werden: Wer träumt da nicht von? Auf
       der CES-Messe in Vegas wurde ein Geruchswecker vorgestellt.
       
   DIR Die Wahrheit: Fang die Sau!
       
       Es wird Zeit für gute Zukunftsmusik – und Zeit für einen herrlichen
       Wahrheit-Ausblick auf das Jahr 2016.
       
   DIR Die Wahrheit: Lautlose Killer
       
       Die große Wurstkrise: Menschliche Ernährung ist grundsätzlich
       problematisch, wie ein paar Beispiele für hochgefährliche Kost zeigen.
       
   DIR Die Wahrheit: Mut zur enthemmten Nudellücke
       
       Endlich ist er da: Der Wahrheit-Party-Knigge! So feiern Sie unbeschwert und
       inspiriert vom hippen Weltgeschehen.