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       # taz.de -- Neue Bob-Dylan-CD-Box: 379 Tracks für Dylanologen
       
       > Die frisch veröffentlichten Aufnahmen des Musikers stammen aus der
       > imposantesten Phase seines Œuvres. Wozu taugen die 18 CDs?
       
   IMG Bild: Da war er noch ein Neuling im Musikbusiness: Bob Dylan
       
       Große Pop- und Rockheroen gibt es viele – Elvis, die Stones und die Beatles
       wären da nur die ersten, die einem in den Sinn kommen. Ein eigenes
       musikwissenschaftliches Fachgebiet aber haben sie nicht hervorgebracht;
       dies blieb Bob Dylan vorbehalten. Zwar ist die sogenannte Dylanologie eher
       unter Musiknerds denn unter Akademikern beliebt – in der Popkritik aber ist
       sie fest installiert.
       
       Für die Vertreter dieser Forschungsrichtung, die Dylanologen, dürften die
       vergangenen Wochen jedenfalls eine arbeitsreiche Zeit gewesen sein. Mit
       „The Bootleg Series, Vol. 12: The Best of The Cutting Edge 1965– 1966“ ist
       eine weitere Auskopplung rarer Tracks von Dylan erschienen – seit 1991
       bringt sein Label Columbia in regelmäßigen Abständen Material aus
       Aufnahme-Sessions heraus, das für die Album-Veröffentlichungen nicht
       verwendet wurde.
       
       Diesmal ist es das Material aus der wohl imposantesten Phase des
       Dylan-Œuvres: Der Zeit zwischen Januar 1965 und März 1966, in der Dylan
       sich dem Rock und der elektrischen Gitarre zuwandte. Drei Meisterwerke
       entstanden innerhalb dieser Periode: „Bringing It All Back Home“, „Highway
       61 Revisited“ und „Blonde On Blonde“. Auch den Song „Like A Rolling Stone“,
       der auf vielen Best-of-Zwanzigstes-Jahrhundert-Listen ganz oben steht, hat
       er in dieser Zeit geschrieben.
       
       ## Welthits statt bloß Hits
       
       Material von den Aufnahmen zu diesen drei epochalen Alben sind im November
       in M-, L- und XL-Format veröffentlicht worden: eine 18-CD-Box mit 379
       Stücken Audiomaterial (plus DVD et cetera) für schlappe 600 Dollar, eine
       6-CD-Variante und eine Doppel-CD.
       
       Nun kann man das als ziemlich schamlose Verwertung jedes in den Archiven
       existierendenDylan’schen Schnipsels werten. Man kann auch darauf hinweisen,
       dass jetzt, nach 50 Jahren, das Copyright für die Aufnahmen abgelaufen wäre
       und nur die Veröffentlichung verhindert, dass andere sich des
       Tonbandmaterials annehmen. Oder man kann sich fragen, ob als nächstes Alben
       folgen, auf denen der gute Bob nur ins Mikro haucht oder sich die Nase
       putzt.
       
       All das ändert nichts an der Tatsache, dass es unter
       musikwissenschaftlichem Aspekt (auch für Freizeit-Dylanologen) wirklich
       ziemlich spannend ist, sich mit den verschiedenen Aufnahmephasen zu
       beschäftigen – wenn man also bis zu 20 Takes eines einzigen Songs (nur in
       der 18- CD-Variante) hören kann. Die Versionen zeigen, wie viel dazugehört,
       um wirklich perfekte Stücke zu produzieren: Als Allererstes ein
       talentierter Songwriter, klar. Aber es kommen auch mit Tom Wilson und Bob
       Johnston zwei Produzenten dazu, die die Stücke weiterentwickeln.
       
       ## Klanglich nicht das Nonplusultra und dennoch perfekt
       
       Es kommt die Atmosphäre im Studio dazu – dass sie meist nicht so übel war,
       ist schon in der Originalaufnahme von „Bob Dylan’s 115th Dream“ zu hören,
       als Produzent Wilson, Dylan und die Studiocrew während der Aufnahmen in
       Gelächter ausbrechen. Dass die drei Alben am Ende klanglich und
       produktionstechnisch nicht das Nonplusultra waren, war egal: Denn die
       Stücke an sich waren ausgefeilt und perfekt.
       
       Und manchmal kommt noch der Zufall dazu, um aus einem Hit einen Welthit zu
       machen: Musikgeschichtlicher Mythenstoff ist es geworden, dass Al Kooper,
       der eigentlich als Gitarrist engagiert worden war, während der Sessions zu
       „Like A Rolling Stone“ plötzlich die Idee für das Orgel-Intro hatte. Auf
       „The Best of The Cutting Edge“ sind nun ältere Versionen ohne den
       Orgel-Einstieg zu hören, die bei weitem nicht den Flow haben, für den
       dieser Song in der Album-Version bis heute geliebt und verehrt wird.
       
       Bei „Visions Of Johanna“ oder „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis
       Blues Again“ ist der Reifeprozess der Stücke ebenfalls nachvollziehbar:
       Ersteres ist in der Rohversion viel mehr earlyRock’n Roll. Letzteres wirkt
       in der früheren Version spannungsärmer. Oft, das ist interessant, hat Dylan
       im Verlauf der Aufnahmen Tempo rausgenommen, während Orgel und
       Mundharmonika an Bedeutung gewannen.
       
       ## RichtungRock’nRoll
       
       Vor dem musikgeschichtlichen Hintergrund ist diese Zeit Dylans die
       faszinierendste. Es war die Zeit, in der ein Musik-Krieg tobte – und im
       Zentrum stand niemand anders als er selbst. Die linke, zum Teil
       kommunistische Songwriter-Fraktion bewertete alles als Verrat an der
       „Bewegung“, was in Richtung Rock ’n’ Roll, Pop, Unterhaltungsindustrie
       ging. Und Dylan entwickelte sich gerade in genau eine solche Richtung; es
       ist die Phase, in der er vom Protest-Barden zum elektrifizierten Rocker in
       Stiefeln wurde.
       
       Im Magazin Sing Out!, damals eine Bibel des Folk, schrieb der Herausgeber
       Irwin Silber zu Dylans Wandel: „Du scheinst gerade einen anderen Weg
       einzuschlagen, Bob – und das macht mir Sorgen. Deine neuen Songs scheinen
       alle nach innen gerichtet zu sein (…) Du scheinst dich nun mehr auf eine
       Handvoll Kumpane hinter der Bühne zu beziehen als auf den Rest von uns, der
       davorsteht ...“
       
       Der Vorwurf an Dylan war klar: Er habe die Bewegung verraten. Dylans
       Antwort auch: „Ich gehöre zu keiner Bewegung. (…) ich halte es einfach in
       keiner Organisation aus.“ Legendär in dieser Zeit: sein 20-minütiger
       Auftritt beim Newport Folk Festival (1965), bei dem er mit Buhrufen bedacht
       wurde und die Bühne verfrüht verließ – und die „Judas“-Rufe während eines
       Konzerts in England im Jahr darauf.
       
       In alldem spiegelte sich Dylans Wandel zum Folk-Rock wider, einem Genre,
       das damals so noch gar nicht existierte. Um diesen Wandel nachzuvollziehen,
       reicht es für den konventionellen Hörer völlig aus, die Doppel-CD mit ein
       bis zwei alternativen Versionen zu erwerben. Und für die Dylanologen, die
       die Musikwelt erklären wollen, könnte durchaus auch das große Paket
       interessant sein.
       
       4 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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