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       # taz.de -- Erinnerung eines Rotlicht-Regisseurs: „Es war schön, es war anstrengend“
       
       > Jeff Pierron führte Regie am letzten Live-Sex-Theater Deutschlands. Wenn
       > er heute über Hamburgs Große Freiheit geht, wird er manchmal etwas
       > traurig.
       
   IMG Bild: Trauert nur dann und wann dem Kiez von früher nach: Jeff Pierron auf der Großen Freiheit, die nicht mehr seine ist. 
       
       HAMBURG taz | Die 80er waren auch hier der Anfang vom Ende. In Hamburgs
       Rotlichtbezirk, im Stadtteil St. Pauli hatten nicht nur die Freier Angst,
       sich beim Prostituiertenbesuch mit HIV zu infizieren. Auch die
       Stripperinnen hatten es schwer: Schwarze und südamerikanische Tänzerinnen
       waren plötzlich verpönt, Agenturen brachten Frauen aus Bulgarien und Polen
       – die Clubbetreiber wollten nur noch Weiße. „Wunderschöne Frauen zwar. Aber
       für mich war das schade“, sagt Jeff Pierron. „Weißt du, ich hatte es damals
       auch nicht leicht auf dem Kiez: als Franzose und dann noch als
       Homosexueller.“
       
       43 Jahre lang hat Pierron auf St. Pauli gearbeitet, in der weit über die
       Stadt hinaus bekannten Großen Freiheit. Er hat Regie geführt im Salambo, wo
       es auf der Bühne echten Sex zu sehen gab. Auch im Colibri war er für die
       Sex-Shows zuständig und hat das Safari mitbetrieben, das letzte
       „Live-Sex-Cabaret“ Deutschlands. Wenn der inzwischen 66-Jährige heute in
       der Monika Bar an der Großen Freiheit sitzt, wird er manchmal ein bisschen
       traurig. „Grausam, was hier so für Leute unterwegs sind, an einem
       Samstagabend“, sagt er und nippt am Wodka.
       
       Es ist noch früh am Abend, die Straße füllt sich langsam:
       Wochenendbesucher, Junggesellinnen- und Junggesellenabschiede, Menschen
       also, die eigens anreisen, um auf St. Pauli die Sau raus zu lassen.
       Mittendrin ist die Monika Bar ein bisschen wie eine Oase gelegen.Hier
       treffen sich Menschen, die schon seit Jahren auf dem Kiez arbeiten oder
       früher gearbeitet haben: Männer mit Mänteln und dicken Klunkerringen an den
       Fingern; Frauen, die sich von niemandem was erzählen lassen, der nicht
       mindestens zehn Jahre im Milieu gearbeitet hat. Ein Transvestit zeigt
       Handyfotos: Mein Hund, mein Mann, wir am Tag unserer Hochzeit. Stolz
       funkeln seine Augen unter den überlang-geschwungenen Wimpern.
       
       „Alors“, sagt Jeff Pierron, das sagt er fast immer, wenn er einen Satz
       anfängt: „Alors, damals in Paris!“ Und erzählt von seinem Leben vor der
       Großen Freiheit. Zu Schulzeiten wollte er Anwalt werden. Als er sein Abitur
       in der Tasche hatte, fing er dann doch an, Geschichte und Geografie zu
       studieren. Schnell habe er gemerkt, dass das nichts für ihn war: „Zu
       trocken“, sagt Pierron. Was ihn faszinierte, war die Theaterwelt. An der
       Pariser Staatsoper versuchte er sich als Statist. „Ich habe die Bühne
       geliebt!“, ruft Pierron, und diese Liebe strahlt aus seinem rosigen
       Gesicht. Die Kostüme hätten ihn fasziniert, die aufwendigen Stoffe, der
       Schmuck.
       
       Seinem konservativen Vater gefiel das gar nicht: Der schmiss ihn raus.
       Pierron, damals 23 Jahre alt, ging in die Tourismus-Branche. Beim
       Veranstalter Club Mediteranee, der weltweit Ferienanlagen betreibt, fing er
       als Entertainer an. Dort lernte er die Urlauberin Renate Durand kennen.
       Deren Mann René Durand betrieb seit den 60ern in Hamburg-St. Pauli das
       Salambo, eine der schillerndsten Sex-Shows auf der sogenannten sündigen
       Meile. Begeistert sei Renate Durand von ihm gewesen, diesem gut aussehenden
       und talentierten jungen Franzosen – so erzählt Jeff Pierron es selbst. Mit
       23 Jahren jedenfalls fing er 1972 im Salambo an, Große Freiheit 39, da, wo
       mal der Star Club war, in dem die Beatles berühmt wurden.
       
       Viele, die über das vergangene St. Pauli sprechen, nennen die 70er-Jahre
       die „goldenen Zeiten“. Es sei „sauberer“ gewesen, sagt auch Pierron, „in
       jeder Hinsicht“: Die Koberer standen in Abendgarderobe vor den Strip-Shows
       und Cabarets und suchten Passanten zum Reinkommen zu überreden, mit
       unschlagbaren Angeboten und zuckersüßen Versuchungen: Alle versprachen die
       atemberaubendsten Shows, die schönsten Frauen, die heißesten Männer, die
       aufwendigsten Kostüme. Auch das Publikum war schicker gekleidet, mit
       Federboa, Abendkleid, Anzug und Hut. Man bestellte Sekt und Champagner
       flaschenweise, auch die Darstellerinnen und Darsteller verdienten gut.
       
       Pierron war für alles zuständig, was die Bühne betraf. „Das war unglaublich
       viel Arbeit, aber es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht.“ Dass es mit
       seinem Chef nicht einfach würde, habe er schnell gemerkt: René Durand sei
       ein Visionär gewesen, ein Träumer – und ziemlich verrückt. „Alles war bei
       ihm für die Bühne und alles sollte größer und besser sein!“
       
       Wenn Pieron von seiner Zeit mit Durand erzählt, geraten die Dinge manchmal
       ein bisschen durcheinander, weil ihm tausend Geschichten einfallen. Dann
       glühen seine Wangen mit seinen Augen um die Wette und der französischer
       Akzent schlägt noch ein bisschen stärker durch. „Alors“, sagt er, „meistens
       war es so: René rief mich an und sagte: ‚Na, mein kleiner Jeff, komm mal zu
       mir ins Büro.‘ Ich saß dann da, während er einen Joint nach dem anderen
       rauchte und dabei schwärmte und fabulierte. Nach einer Stunde Passivrauchen
       kam ich raus, vollkommen high, und musste dann materialisieren, was er sich
       ausgedacht hatte.“ Also Musik aussuchen, Kostüme schneidern lassen, die
       Bühne gestalten, SchauspielerInnen casten, proben – und manchmal auch
       selbst auf der Bühne stehen. Im Salambo inszenierte er die Stücke, die
       Durand schrieb, später im Safari dann Stoffe wie das Phantom der Oper, Tanz
       der Vampire, und gar, noch später, die Biene Maja.
       
       Wie genau castet man eigentlich DarstellerInnen für eine Live-Sex-Show?
       „Beim Salambo konnte nicht jeder Hans und Franz anfangen!“, ruft Pierron.
       „Alors, erster Schritt: Penis-Casting.“ Also ab in die Kabine und zeigen,
       was der Bewerber in der Hose hat. Danach, so Pierron, folgte eine Phase, in
       der sich die Darsteller dran gewöhnen mussten, vor Publikum Sex zu haben.
       
       Im Safari gab es vier Live-Sex-Shows pro Abend, sechs Abende die Woche.
       Dorthin wechselte Pierron 1976. Inhaber Hans-Henning Schneidereit versprach
       ihm das Doppelte dessen, was er im Salambo verdient hatte und übertrug ihm
       neben der künstlerischen Leitung für das Safari auch die des Colibri. Im
       Jahr 2000 wurden die beiden Geschäftspartner: Pierron übernahm das Safari
       zu 49 Prozent.Im Safari fing Pierron an zu trinken. „Schneidereit hat
       gesagt: ‚Ein Mann, der nicht trinkt, ist kein Mann‚. Also habe ich
       getrunken.“ Dieser Chef und Geschäftspartner sei ganz anders als René
       Durand gewesen, der Träumer: Schneidereit war ein Geschäftsmann. Und die
       Geschäfte liefen gut, auch in den 80ern noch, sodass der Inhaber das Safari
       kurz nach der Wende komplett sanieren ließ. Er habe Pierron 500.000 DM für
       den Umbau gegeben und gesagt: „Jeff, du bist der einzige Franzose hier, der
       so viel Geld ausgeben kann!“
       
       Im Jahr 2000 hatte Schneidereit seinem Partner noch prophezeit: „Wenn es
       gut läuft, können wir den Laden noch zehn Jahre halten.“ Da waren die
       anderen Live-Sex-Läden in der Großen Freiheit schon Geschichte. Gegenüber
       dem Safari hatte die 99 Cent Bar eröffnet und da, wo mal das Salambo war,
       stand jetzt das Dollhouse. Das Safari hatte seinen Ruf und war außerdem der
       letzte Ort für solche Live-Sex-Shows in ganz Deutschland. Aber Pierron
       gefiel der Stil nicht, mit dem Schneidereit, der ja immer noch 51 Prozent
       hielt, den Laden führte – Petereit habe nie etwas ändern wollen, sagt
       Pierron, dabei hätten sich die Zeiten geändert.
       
       Hatte das Aufkommen der Videokassette dem live inszenierten Sex noch nicht
       das Genick gebrochen, brachte das Internet eine neue Qualität der
       Bedrohung. „Die Leute wollen zwar immer noch sehen, wie andere auf der
       Bühne bumsen“, sagt Pierron. „Aber sie wollen kein Geld mehr dafür
       ausgeben.“ Auch die Geschäftsleute blieben weg. Früher hätten sie auf dem
       Kiez immer gewusst: Wenn Messe ist, sind die Läden voll. „Heute ist die
       Internorga oder eine andere große Messe und – nichts.“
       
       Vor dem Fenster der Monika Bar tummelt sich inzwischen das
       Wochenendpublikum. Eine Horde Junggesellinnen zieht vorbei, „Team Braut –
       heute wird gefeiert“ steht knallpink auf den schwarzen T-Shirts. „Es ist so
       nichtssagend geworden“, sagt Pierron. „Die Leute wollen vergessen. Sie sind
       nicht mehr in der Lage, sich ruhig irgendwo hinzusetzen und eine Show zu
       genießen.“
       
       Und das Safari? 2013 verstarb Schneidereit – und nahm seinen Laden mit ins
       Grab: Der Pachtvertrag war allein auf ihn ausgestellt und seine Frau, die
       Erbin, wollte nicht weiter machen. Mehr als ein Jahr lang blieb der Laden
       geschlossen, bis er im vergangenen Jahr mit neuen Betreibern eröffnete –
       als Bierdorf. Bis Jeff Pierron dort zum ersten mal einen Fuß reinsetzt,
       muss man ihm sehr lange sehr gut zureden, ihn am Arm nehmen und über den
       roten Teppich führen, der zum Eingang führt – und versprechen, dass man
       schnell wieder geht, wenn es ganz schlimm ist.
       
       Es ist wohl ganz schlimm. Jürgen Drews sülzt aus den Lautsprechern, auf der
       Tanzfläche in dem großen Raum mit den weißen Wänden singen einige laut mit.
       Von der Decke hängen bayrische Kränze mit blau-weißen Papierstreifen. Neben
       der Tanzfläche wird der Tresen indirekt blau-lila angestrahlt. An der
       Fensterfront werden hohe Holztische belagert von
       Cocktail-mit-Sahne-Trinkerinnen. Der Boden klebt. Es ist ein
       Lautstärkepegel wie in der Mensa, an der hinteren Wand flackert ein
       künstliches Feuer auf einem riesigen Bildschirm.
       
       Jeff Pierron, der zwölf Jahre lang hier gearbeitet hat, steht verloren ein
       paar Schritte weit im Raum. Er guckt sich um, irritiert, und scheint nichts
       wiederzuerkennen. Doch, da hinten, wo jetzt eine weiße Wand ist, war mal
       die Bühne. Und am anderen Ende des Raumes stand die Badewanne. Moment, es
       gab eine Badewanne? Er lächelt kurz. Dann wird seine Stirn wieder kraus,
       Anstrengung zeigt sich in seinem Gesicht. „Ein bisschen plump“, sagt er.
       „Also, von den Leuten her.“
       
       Gegenüber, im Gretel und Alfons, Erleichterung: Pierron atmet durch. „Hier
       regiert Inge“ steht auf einer goldenen Plakette an der holzvertäfelten Wand
       hinter dem Tresen. Daneben steht Inge, seit 20 Jahren schmeißt sie den
       Laden, seit acht Jahren gehört er ihrer Tochter. An den Wänden hängt
       allerlei Kram, vergilbte Bilder der Spice Girls neben Tauen mit
       Seemannsknoten, eine Uhr mit römischem Zifferblatt. Auf einer Eckbank legt
       ein riesiger Riss im Bezug das Schaumstoff-Polster frei. Hier sammeln sich
       die, die mal eben durchatmen wollen, wenn es ihnen draußen oder in den
       anderen Läden zu viel wird.
       
       Die Wirtin schenkt Korn aus und erzählt, dass sie geweint hat, als
       gegenüber das Safari-Bierdorf eröffnet hat. Angst habe sie gehabt, dass die
       Leute lieber dort hingehen, weil es größer ist – und sauberer. „Aber es ist
       auch unpersönlich“, sagt sie, „wie ein Bahnhof.“ Jeff Pierron ist nicht
       traurig darüber, was aus dem Safari geworden ist. „Es hat einfach nichts
       mehr mit mir zu tun.“ Die Zeiten änderten sich eben und das sei okay. „Es
       war schön, es war anstrengend, und jetzt ist das Kapitel abgeschlossen.“
       
       Mittlerweile ist es ein Uhr, Jeff Pierron will am Morgen früh aufstehen.
       Seit er in Rente ist, hat er viel zu tun: Leute treffen, Essen gehen, das
       Leben genießen. Nach Hause gehen will er jetzt aber noch nicht. Die Nacht
       ist noch jung. „Alors“, sagt er, „einen Wodka bitte!“
       
       11 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Schipkowski
       
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