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       # taz.de -- Queere Flüchtlinge: „Einfach ich selbst sein“
       
       > Ali, Omar und Achmedi sind Flüchtlinge aus dem Iran, Syrien und
       > Afghanistan – und schwul. Auch in Bremen ist das ein Geheimnis.
       
   IMG Bild: Wer in diesem Umfeld von der heterosexuellen Norm abweicht, lebt oft in Angst
       
       BREMEN taz | Achmedi* ist aus Afghanistan geflohen, Omar* aus Syrien. Beide
       leben seit wenigen Monaten in Bremen, zurzeit in einer Turnhalle. Die
       Unterkunft ist alles andere als ausreichend – doch für viele Flüchtlinge
       ist sie ein Ort, an dem sie in Sicherheit leben. Für Achmedi und Omar
       nicht: Sie sind schwul.
       
       Ihre sexuelle Identität war in ihren Herkunftsländern ein Geheimnis und sie
       ist es auch in der Notunterkunft. Auch hier in Bremen haben die beiden
       ständig Angst vor einem ungewollten Outing.
       
       „In der Unterkunft muss ich aufpassen, dass niemand auf mein Handy schaut“,
       erzählt Achmedi. Er fürchtet Ausgrenzung, Beschimpfungen oder gewalttätige
       Übergriffe durch die anderen Flüchtlinge.
       
       Die mangelnde Privatsphäre in den provisorischen Unterkünften trifft sie
       sehr stark: In der Turnhalle teilen sich die Flüchtlinge mit acht Leuten
       einen Raum, der nur durch dünne Wände getrennt ist. Private Gespräche oder
       die sichere Verwahrung von persönlichen Gegenständen ist in den
       Notunterkünften kaum möglich. Auch unser Gespräch musste an einem sicheren
       Ort, außerhalb der Sporthalle stattfinden. Ein Treffen mit anderen schwulen
       Menschen ist durch die schlechte Situation in der Unterkunft undenkbar.
       
       ## Die Herkunft zählt
       
       In den Heimen hat die Nationalität und Herkunft einen hohen Stellenwert
       unter den Flüchtlingen. Viele bleiben auch in den Sammelunterkünften unter
       sich. Das prägt den Alltag der Flüchtlinge, erschwert aber den Kontakt von
       queeren Geflüchteten untereinander, berichtet Achmedi. Die Afghanen in der
       Sporthalle seien ihm gegenüber immer skeptisch, wenn er mit Omar spräche,
       Omar dem Syrer. „Sie wollen dann wissen, worüber wir uns unterhalten und
       stellen unangenehme Fragen“, sagt Achmedi.
       
       Die beiden lernten sich in der Turnhalle kennen. Von ihrer gemeinsamen
       sexuellen Identität erfuhren sie allerdings zufällig. „Über das Internet
       habe ich Kontakt zu anderen schwulen Menschen“, sagt Achmedi. Es ist einer
       der wenigen Wege mit Gleichgesinnten frei über Homosexualität zu sprechen,
       ohne Furcht vor Homophobie in der Notunterkunft.
       
       Wahrgenommen wurden diese Probleme vom [1][Rat&Tat-Zentrum Bremen]. Es
       möchte den queeren Geflüchteten helfen – und initiierte dazu ein Projekt.
       Das Zentrum für Schwule und Lesben berät, veranstaltet aber auch ein Café,
       extra für queere Flüchtlinge. „Mit unserer Arbeit wollen wir einen Schutz-
       und Rückzugsraum bieten und ermöglichen, dass die Geflüchteten sich
       untereinander unterhalten und vernetzen können“, erklärt Anna Koddenbrock,
       eine der Mitarbeiterinnen des Projekts und ergänzt: „Gemeinsam mit den
       Geflüchteten wollen wir die Probleme identifizieren und die Situation
       verbessern. Dazu gehört, dass wir den Menschen eine Stimme geben, die
       aufgrund ihrer Situation ungeoutet und anonym bleiben müssen.“ Sie
       berichtet, dass Flüchtlinge mit verschiedenen sexuellen Identitäten vor
       allem telefonische Beratung beanspruchten. Diese schilderten ähnliche
       Probleme wie etwa Omar oder Achmedi.
       
       ## 500 queere Flüchtlinge
       
       Es ist schwer zu sagen, wie viele queere Flüchtlinge in Bremen leben. Durch
       die Situation in den Unterkünften gibt es eine hohe Dunkelziffer. Kaum ein
       geflüchteter Mensch traut sich, seine nicht-heterosexuelle Identität
       preiszugeben. Koddenbrock und Omar entwickelten aber eine Schätzung: Sie
       gehen von etwa 500 queeren Geflüchteten in Bremen aus.
       
       Auch Ali* war im Dezember bei dem [2][Café-Treff im Rat&Tat-Zentrum]. Er
       lebt seit einem Jahr in Bremen und kommt aus dem Iran. „Ich war
       studentischer Aktivist und bin vor politischer Verfolgung der Regierung
       geflohen“, berichtet er. Im Iran ist Homosexualität gesetzlich verboten.
       Sexuelle Handlungen unter gleichgeschlechtlichen Menschen werden mit
       Peitschenhieben oder mit dem Tod bestraft. In vielen arabischen Staaten
       werden queere Menschen verfolgt und bestraft. Auch in Syrien.
       
       Alle drei berichten, die Homosexualität war in ihrer Heimat ein Geheimnis –
       aber nicht der einzige Grund ihrer Flucht. Letztendlich zwangen Krieg und
       politische Verfolgung sie, ihr Land zu verlassen. In den konservativen und
       islamischen Gesellschaften der arabischen Staaten und dem Iran sei
       Homosexualität aber ein Tabuthema und unterdrückt, erzählen sie.
       
       „Es war nicht möglich, sich in Afghanistan mit anderen Schwulen zu
       vernetzen“, sagt Achmedi. Durch die Furcht vor Verfolgung und Bestrafung,
       wüsste man nicht, ob jemand schwul ist oder nicht. Ihre Familien hätten sie
       immer wieder auf Hochzeiten mit Frauen angesprochen. Etwa ob sie eine
       Freundin haben oder wann endlich eine Hochzeit geplant sei. Solche Fragen
       setzten die queeren Männer noch mehr unter Druck. Sie fürchteten, dass ihre
       Familie sie ausgrenzt – nach einer möglichen Offenlegung ihrer
       Orientierung.
       
       „In den Notunterkünften herrschen die gleichen Traditionen wie in Syrien
       oder Afghanistan“, berichtet Omar. Konservative und homophobe Einstellungen
       seien auch unter den meist männlichen Geflüchteten verbreitet.
       
       Die Situationen jetzt hier in Bremen mit den anderen Flüchtlingen in der
       Unterkunft sei bedrückend, sagt Omar, aber selbst außerhalb der Sporthalle
       könne er sich nicht sicher fühlen. Er habe Angehörige, die auch in Bremen
       wohnen und fürchtet sich davor, dass sie ihn zufällig beobachten könnten.
       Etwa wenn er zum [3][queeren Café des Rat&Tat-Zentrums] geht. Auch im
       Dezember war er von dieser Angst nicht frei.
       
       ## Der Ruf der Familie
       
       Zwar ist Homosexualität in Deutschland nicht mehr verboten. Aber, erklärt
       Ali: Wenn man sich in Deutschland outen würde, könne das Probleme für die
       Familien in den Heimatländern mit sich bringen. Der Ruf der Familie würde
       durch ein homosexuelles Mitglied geschädigt, wodurch die gesamte Familie
       mit sozialer Ausgrenzung in der Gesellschaft rechnen müsse.
       
       Die meisten geflüchteten Menschen halten sehr engen Kontakt zu ihren
       zurückgelassenen Familien. Viele Flüchtlinge telefonieren mehrmals
       wöchentlich oder schreiben ihren Verwandten über das Internet. Laut Ali
       wird sich die sexuelle Identität eines geflüchteten Angehörigen im
       Heimatland schnell herumsprechen. „Man muss aufpassen, wenn man in Bremen
       mit Landsleuten spricht“, sagt er.
       
       Einig sind sich Omar und Achmedi in ihren Wünschen. Sie wollen eine eigene
       Wohnung beziehen und endlich einen Raum mit Privatsphäre. Das sei der erste
       Schritt zu einem eigenständigen und freien Leben. „Dort könnte ich einfach
       ich selbst sein“, sagt Achmedi.
       
       ## Das Ressort weiß von nichts
       
       Koddenbrock berichtet von einer queeren Nicht-Regierungsorganisation in
       Berlin. Die sei auf der Suche nach einem Haus, ausschließlich für queere
       Flüchtlinge. Ob ein solches Wohnheim auch in Bremen eine Lösung wäre, hält
       sie für fraglich. „Nicht nur ist es eine Abwägung sich überhaupt für eine
       Sammelunterkunft einzusetzen, sie könnte auch ein Ort sein, der von
       verschiedener Seite homophobe Gewalt auf sich zieht“ so Koddenbrock.
       
       Von der Politik fordere sie, dass sie sich den Problemen der queeren
       Flüchtlinge annimmt und sie vor allem schneller auf Wohnungen verteilt.
       
       Das Sozialressort erklärt, es seien keine Fälle von homophober
       Diskriminierung in den Unterkünften bekannt. Zudem frage man auch nicht die
       sexuelle Orientierung der Geflüchteten ab. Betroffene sollten sich in
       erster Linie bei den AnsprechpartnerInnen der Unterkünften melden oder
       Beratungsangebote wahrnehmen. Die Vermittlung von Wohnungen für queere
       Geflüchtete könne nur bei einem konkreten Fall geschehen. „Das Land Bremen
       ist vom Anspruch her gegen jede Diskriminierung“, sagt der Sprecher des
       Ressorts. „Ein Outing bei der Einrichtungsleitung ist Voraussetzung für
       Unterstützung.“
       
       *Name von der Redaktion geändert
       
       10 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.ratundtat-bremen.de/
   DIR [2] http://www.ratundtat-bremen.de/Termine/1465-Information-Cafe-for-Queer-Refugees.html
   DIR [3] http://www.ratundtat-bremen.de/Termine/1465-Information-Cafe-for-Queer-Refugees.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jannik Sohn
       
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