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       # taz.de -- Debatte zur Hysterie nach Köln: Schlicht die neue Ebene von Sexismus
       
       > Medial verstärkte Ängste, politischer Aktionismus: Den Zustand, in dem
       > sich unsere Gesellschaft gerade befindet, nennen Forscher „moral panic“.
       
   IMG Bild: Nach den sexuellen Übergriffen auf Frauen hat die Polizei die Präsenz am Hauptbahnhof verstärkt.
       
       Es ist etwas passiert seit Köln. Der Eindruck einer im wahrsten Sinne des
       Wortes angefassten Gesellschaft will nicht weichen. Als kürzlich eine
       Gruppe von Einwandererjungs an mir vorbeizog und einer mir verächtlich vor
       die Füße spuckte, einfach so, war dieses Gefühl sofort präsent. Die Fremden
       sind hierhergekommen, aufgenommen worden und, statt uns mit blanken Augen
       der Dankbarkeit anzustrahlen, üben einige von ihnen Gewalt aus, in Köln und
       anderen Städten: eine besonders fiese, beschämende Form der sexualisierten
       Gewalt.
       
       Seitdem treten immer wieder Anzeichen hysterischen Verhaltens auf. Denn die
       üblichen Beruhigungsmechanismen funktionieren nicht. Die erste Beruhigung:
       Die Polizei kann die Bevölkerung beschützen. Konnte sie nicht. Zweite
       Beruhigung: Der Rechtsstaat weiß mit den Tätern umzugehen. Weiß er nicht.
       Das Phänomen ist neu, die Täter sind schwer zu ermitteln, die Taten ebenso
       schwer zuzuordnen und nachzuweisen.
       
       Dritte Beruhigung: Köln war ein singuläres Ereignis. War es nicht. In
       anderen Städten trat dieselbe Gewalt auf. Vierte Beruhigung: Sexualisierte
       Gewalt kommt überall vor, wer nur die der Einwanderer oder Neuankömmlinge
       benennt, ist lediglich einE RassistIn. Diese Form der sexualisierten Gewalt
       war aber neu und wurde nach allem, was wir bisher wissen, bislang nur von
       Einwanderern oder Neuankömmlingen ausgeübt.
       
       Wir stehen vor einem Phänomen, das die Forschung „moral panic“ nennt: In
       der Bevölkerung ist eine latente Furcht vorhanden – hier die Furcht vor den
       Fremden –, die massenhaft ins Land kommen und „uns“ Schaden zufügen
       könnten. Dann kommt ein Ereignis, bei dem diese Furcht sich zu bestätigen
       scheint.
       
       Die Medien verstärken das Ereignis. Es entsteht die Angst, dass die Dinge
       nicht mehr zu kontrollieren sind und in Zukunft weiter auftreten und
       schlimmer werden, ein Spiraleffekt wird prognostiziert. Und daraus entsteht
       eine generelle Feindseligkeit, die sich gegen die als gefährlich
       wahrgenommene Gruppe richtet. Das Konzept sollte als Erstes das England der
       sechziger und siebziger Jahre beschreiben, als die Angst vor gewalttätigen
       Jugendbanden grassierte – einheimischen, wohlgemerkt.
       
       ## Aktionismus und Ersatzhandlungen
       
       Ein Zeichen für „moral panic“ ist auch der Aktionismus, den die Politik
       nach Köln an den Tag legte. Die Zuckerpille der frühzeitigen Abschiebung
       krimineller Ausländer etwa – die de facto oft nicht möglich ist; oder auch
       die Forderung, jedem Einwanderer sofort eine Charta mit den in Deutschland
       herrschenden Normen in die Hand zu drücken. Über Jahre gewachsene
       Einstellungen verwandeln sich nicht per Dekret. Im Übrigen bin ich sehr
       sicher, dass den jungen Männern am Dom bekannt war, dass sie hier Gewalt
       gegen Frauen ausüben und dies verboten ist.
       
       Das alles sind Ersatzhandlungen, die das Problem allein den Einwanderern
       zuschieben. Stattdessen könnte man sich darüber verständigen, was wir in
       unserer Gesellschaft nicht haben möchten. Zu dieser Gesellschaft gehören
       Männer, die in ihrem Herkunftsland mit einem schockierenden Maß an
       Frauenverachtung aufgewachsen sind. Wir leben jetzt hier zusammen.
       
       Zu dieser Gesellschaft gehören auch eine Menge deutscher Ureinwohner und
       Medien, die bis zum heutigen Tag kaum mal zur Kenntnis nehmen, dass es
       sexualisierte Gewalt gegen Frauen überhaupt gibt, und zwar ausgeübt von
       Urdeutschen.
       
       Der Normalfall ist, dass sich einige mutige Frauen beschweren – und diese
       dann per Shitstorm in die Schranken gewiesen werden. Unvergessen bleibt der
       #aufschrei auf Twitter, als Frauen über Alltagssexismus berichteten und
       sich anhören mussten, dass sie eben „einfach mal die Bluse zumachen“
       sollten. Verharmlosung ist eine der garantiert auftretenden Reaktionen,
       wenn Frauen sich über Sexismus beschweren.
       
       Ein anderes Medienphänomen: Es wird über Vergewaltigungen vor allem dann
       berichtet, wenn unklar ist, wer nun eigentlich lügt: das mutmaßliche Opfer
       oder der mutmaßliche Täter. Der Fall Kachelmann lässt grüßen. Dadurch
       entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass Falschbeschuldigungen und
       nachweisliche Vergewaltigungen sich quasi die Waage halten, mal lügt der
       eine, mal die andere. Das stimmt aber nicht.
       
       Falschbeschuldigungen sind laut Forschung selten. Doch die Angst, dass
       einer nicht geglaubt wird, hält die weitaus meisten Opfer von
       Vergewaltigungen davon ab, überhaupt Anzeige zu erstatten. [1][Auch dies
       konnte via Twitter verfolgt werden: #ichhabnichtangezeigt hieß der Hashtag
       dazu.]
       
       ## Etwas Gutes geschieht
       
       Gerade findet auf Twitter eine neue Debatte statt: [2][Unter
       „whyIsaidnothing“ berichten Frauen], warum sie über erlebte sexuelle Gewalt
       nicht gesprochen haben. Und sie werden dafür verlacht und beleidigt. Die
       typische Reaktion und eine Dethematisierung erster Güte.
       
       Gut ist deshalb, was Justizminister Heiko Maas tut: das Sexualstrafrecht
       verschärfen – und zwar für alle. Das ist übrigens nicht sein Verdienst, er
       setzt nur nach langem Drängen von Frauenverbänden eine Konvention des
       Europarats um, und das nur in der Minimalvariante.
       
       Gut ist auch, dass sich so viele um Differenzierung bemühen: „Sexualisierte
       Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die
       vermeintlich ‚anderen‘ sind“, schreiben gerade Feministinnen um Anne
       Wizorek [3][unter dem neuen Hashtag #ausnahmslos.] Diese Richtung stimmt:
       Wir haben hier nicht nur zwei Vergewaltigungen in der Neujahrsnacht in
       Köln, sondern 7.300 angezeigte Vergewaltigungen in Deutschland im Jahr
       2014. Dass die zwei nun so viel schwerer wiegen, kann mit „moral panic“ gut
       beschrieben werden.
       
       Ja, es gibt einen Unterschied zwischen organisierten Jagdszenen und dem
       „normalen Sexismus“ in Deutschland. Man muss diese beiden Arten aber nicht
       gegeneinander aufwiegen, man muss sie addieren: Der Sexismus in Deutschland
       hat nun schlicht eine neue abscheuliche Variante.
       
       Wenn die allgemeine Panik etwas abgeebbt ist, dann wird hoffentlich diese
       Erkenntnis übrig bleiben: Diese Gesellschaft hat ein Sexismusproblem auf
       vielen Ebenen. Und tut etwas dagegen. Schaffen wir.
       
       12 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/search?q=%20%23ichhabnichtangezeigt&src=typd
   DIR [2] https://twitter.com/search?q=%23whyisaidnothing
   DIR [3] https://twitter.com/search?q=%20%23ausnahmslos&src=typd
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
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