URI: 
       # taz.de -- Sport, überall nur noch Sport: Die geistige Macht unserer Epoche
       
       > Wie der Sport als totalitäres System unser Leben steuert und uns einen
       > Starkult des Geldes betreiben lässt. Eine Streitschrift.
       
   IMG Bild: Gibt es kein Entkommen?
       
       Die heutige Gesellschaft hat eine neue Variante des Totalitarismus
       erfunden: den Sport. Das Jahr 2016 wird in dieser Hinsicht wie die früheren
       vom Sport überlagert sein. Periodisch wiederkehrende Ereignisse wie die
       Fußball-EM oder die Olympischen Spiele kommen zu den jährlichen Anlässen
       wie der Champions League, den internationalen Tennisturnieren oder zur Tour
       de France hinzu.
       
       Diese Sportanlässe besetzen schamlos und rücksichtslos den gesamten Platz
       in den Medien. Eigentlich müssten die Leser mancher Zeitung doch erstaunt
       sein, wenn sie bei der Lektüre feststellen müssen, dass der Sport auf fünf
       Spalten die Frontseite ihrer Zeitung belegt oder im Inneren eine Beilage
       von mehreren Seiten füllt, und auch die lokalen Seiten, die dem Leben in
       den Quartieren oder Dörfern gewidmet sind, quellen über von Sportthemen.
       
       Wie ein Nimmersatt mit unstillbarem Hunger vereinnahmt der Sport den ganzen
       Platz für sich. Niemand kann dieser erdrückenden Invasion der Sportberichte
       entgehen, die alles andere verdrängt. Diese Überdosis an Sport hat eine
       zerstörerische Umkehrung der Werte und der Hierarchie der Information zur
       Folge. Statt sich auf ein paar Worte am Ende der Fernseh- und
       Rundfunknachrichten zu beschränken, was angesichts ihrer
       Bedeutungslosigkeit normal wäre, verweist die Sportberichterstattung alles
       wirklich Wichtige auf die Randplätze.
       
       Was dagegen für die Zivilisation von Bedeutung wäre, woran man sich noch
       Jahrhunderte später erinnern wird – die herausragenden Persönlichkeiten der
       Philosophie, der Malerei, Dichtung, Choreografie, Musik oder Architektur –
       findet dagegen kaum Beachtung in den Medien.
       
       ## Die Sportmetapher normiert die Sprache
       
       Der Sport macht sich breit. Dessen Allgegenwart stellt eine tödliche
       Usurpation dar: Es wird der Kultur zum Verhängnis, wenn die
       Sportinformation ihren Platz beansprucht. Der Sport hat eine totalitäre
       Struktur: Es ist heute bei uns ebenso unmöglich, ihm zu entrinnen, wie dies
       bei der ideologischen Propaganda im Nazideutschland, in Stalins UdSSR oder
       im maoistischen China möglich war. Clausewitz definierte den Krieg als
       Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der Sport ist die Fortsetzung
       des Totalitarismus mit anderen Mitteln.
       
       Der Sport beherrscht unsere Vorstellungen, diese gleichen sich ihm an. Die
       Stadien stecken die Seelen an. Die Sportmetapher ist zum Automatismus der
       Sprache und des Denkens geworden und drängt sich in verschiedensten
       Bereichen, aber immer in der Form normativer Forderungen von
       quantifizierbaren Leistungen und Anstrengungen (im Stadion wie an der
       Arbeit im Unternehmen), auf.
       
       Die Sportmetapher normiert so die Sprache für zahlreiche menschliche
       Aktivitäten mit ihren stereotypen Vorstellungen eines mechanischen
       Funktionierens ohne jede Überraschung. Der Sport fabriziert so die
       Klischees der täglichen Sprache. Immer häufiger ist in den Konversationen
       auf der Straße, im Café, auf dem Markt von Manchester bis München vom Sport
       die Rede. Die Aussagen sind vorhersehbar, die planetare mechanische
       Angleichung der Vorstellung und des Sprechens beraubt die Menschen der
       Überraschung beim Reden.
       
       Denn der Sport ist eine ewige Wiederholung, er lässt keine kollektive
       kreative Vorstellung zu. Im Gegenteil bezweckt der Sport, diese „radikale
       Schaffenskraft der Vorstellung“ zu lähmen, die für den Philosophen
       Cornelius Castoriadis die Quelle der gesellschaftlichen, politischen, aber
       auch literarischen oder poetischen Kreativität ist.
       
       ## Ein Reich der Unethik des Turbokapitalismus
       
       Der Sport ist nicht bloß ein Schauspiel von Leistungen, sondern etwas
       Nie-Dagewesenes. Vor allem seit der Krise von 2008, die nichts
       Vorübergehendes ist, wie man dies meinte, um sie mit derjenigen von 1929 zu
       vergleichen, sondern der Beginn einer neuen und dauerhaften Form der
       Verarmung der Bevölkerungen. Im Fußball wie im Tennis oder Golf ist
       hauptsächlich von Geld die Rede: Man kauft und verkauft Spieler wie
       unerschwinglich teure Waren.
       
       Man weiß, dass ihr Wert durch den Preis finanziell indiziert ist, wobei
       zudem feststeht, dass es immer die Reichsten sind, die gewinnen. Der
       Profisport ist ein Reich der Unethik des Turbokapitalismus. Ein Beispiel:
       Wie kann man akzeptieren, dass es einen Markt gibt, auf dem Spieler wie
       einst Sklaven verkauft und gekauft werden? Das kollektive Urteilsvermögen
       muss doch sehr getrübt sein, um so etwas normal zu finden.
       
       Die Sportwelt gleicht sich derjenigen des Geldes an, sie nimmt wie ein
       Chamäleon die Farbe und den Geschmack des verrückt gewordenen Geldes an.
       Das Geld im Sport ist eine ganz spezielle Währung. Es hat keinerlei Bezug
       zu einer handwerklichen oder industriellen Produktion. Die Realität der
       geleisteten Mühe hat ebenfalls keine Bedeutung, denn als Kumpel in einer
       Grube, als Holzfäller im Wald oder als Kassiererin im Supermarkt zu
       arbeiten, ist zweifellos anstrengender und weit verdienstvoller, als in der
       deutschen Fußballelf ein Match zu spielen.
       
       ## Geld mit Ego
       
       Das Geld im Sport hat weder mit Großmutters Ersparnissen im Wäscheschrank
       noch mit dem Lohn für eine wirkliche Arbeit etwas zu tun. Es handelt sich
       um Geld, das vom Anfang bis zum Ende in keinem Verhältnis zu einem
       Gebrauchswert steht, ein Geld ohne Bezug zur reellen Welt, ein Geld im
       Zustand der Schwerelosigkeit. Es erreicht Dimensionen, die es in eine pure
       Abstraktion verwandeln.
       
       Im Rahmen der Behandlung der Finanzkrise von 2008 durch die Medien ist das
       Geld selbst auch zum Schauspiel geworden. Vor unseren Augen vermischen sich
       seither die Spektakel des Geldes im Sport (vor allem im Fußball) und des
       Geldes in der Finanzkrise. Verharmlosend ist da vom verrückt gewordenen
       Geld der „Kasinowirtschaft“ die Rede. Dieser Ausdruck kaschiert indes die
       ganze Wahrheit des Phänomens: den Übergang des Geldes in die Sphäre des
       Schauspiels, wo es sich mit dem Sport liiert. Geld und Sport bilden so die
       beiden Facetten ein und derselben Realität: des Spektakels. In dieser Show
       ist das Geld selbst ein Star wie ein Fußballspieler.
       
       Der Sport trägt zum Starkult des Geldes bei. Das zum Schauspiel gewordene
       Geld ist historisch und soziologisch neu. Denn nicht, was das Geld
       erschafft, ist Gegenstand dieses Schauspiels und Starkults, sondern das
       Geld an sich. Zumindest dieses Geld, von dem die Medien reden, das nicht
       das Geld der gewöhnlichen Mitbürger ist. Das Geld um des Geldes willen, das
       sich um sich selbst dreht, wird da inszeniert. Dabei wird vorgegaukelt,
       dass dieses Geld ein Ego besitze. Oder das Ego der mit ihm verschmolzenen
       Fußballstars repräsentiere.
       
       ## Imperative der ultraliberalen Wirtschaft
       
       Der Sport ist eine gewaltige Maschine zur Legitimierung dieses fiktiven
       Geldes, die das Gesetz des Geldes akzeptabel und die Ungerechtigkeiten
       normal erscheinen lässt. Mithilfe des Sportspektakels und dank der
       Billigung durch die Massen wird akzeptiert, was den Bevölkerungen
       eigentlich inakzeptabel erschien. Wir leben in der ersten Epoche der
       Geschichte, in der Geld an sich, das sich um sich selber und um sein
       vermeintliches Ego dreht (diese narzisstische Seite macht es spekulativ)
       und von jedem Gebrauchswert, von der Arbeit, Produktion und realen Welt
       abgekoppelt ist, zum Spektakel wird. Der neue und eigentliche Star des
       Sports, in dem das Geld in seiner absoluten Abstraktion als Schauspiel
       gegeben wird, ist nicht Federer oder Messi, sondern dieses Geld.
       
       Diese Aktivität oder diese Vielzahl von Spektakeln, die wir Sport nennen,
       ist eine Erscheinung im England des 19. Jahrhunderts und ein höchst
       erstaunliches kollektives Phänomen. Als der Sport noch in den Kinderschuhen
       steckte, konnte niemand diese enorme spätere Entwicklung voraussehen. Die
       ersten Olympischen Spiele, die dank der Hartnäckigkeit von Pierre de
       Coubertin wiederauferstanden waren, fanden in einem vertraulichen Rahmen
       statt. Nichts deutete damals auf diese unmäßige Liebe bis jenseits der
       Grenze des Fanatismus hin, mit der sich die Massen zum Sport hingezogen
       fühlen.
       
       Zwei Jahrhunderte nach der Erfindung des Sports ist die Bilanz
       schwindelerregend: Unüberschaubare Publikumsmengen füllen die Stadien oder
       drängen sich an den Straßenrand bei der Durchfahrt der Radrennen. Um ein
       Vielfaches größer noch ist die Zahl der Fernsehzuschauer, die am Bildschirm
       die Übertragung von Sportveranstaltungen verfolgen. Diese maßlose
       Leidenschaft für den Sport ist weltweit geworden.
       
       Die Abhängigkeit der Massen vom Opium des Sports ist ein durchaus
       beunruhigendes Phänomen und eine Zivilisationskrankheit. Auch das
       marxistische Konzept der „Entfremdung“ reicht nicht aus, um dieses Phänomen
       zu erklären. Greifen wir eher zu Auguste Comtes Konzept der „geistigen
       Macht“. Der Sport ist diese „geistige Macht“ der Gegenwartsgesellschaft,
       die mit den Mitteln der Technologie der Medien und der Unterhaltung einen
       Menschen hervorbringt, der euphorisch die Imperative der ultraliberalen
       Wirtschaft akzeptiert.
       
       Der Sport ist diese geistige Macht unserer Epoche, weil mit den bis zum
       Exzess in den Medien verbreiteten Sportanlässen ohne Skrupel diese
       Imperative (Wettbewerb, Leistung, Kult des Geldes, Marken- und
       Konsumfanatismus) verbreitet werden, die der globalisierten
       Warengesellschaft eigen sind. Unversehens wird da jedem und jeder diktiert,
       wie sie sich zu verhalten und zu sein haben. Der allgegenwärtige sportliche
       Diskurs ist ein soziales und politisches Programm geworden – er ist vorab
       eine schrankenlose Propaganda für die verallgemeinerte Konkurrenz, für das
       Gott gewordene Geld.
       
       Der Sport arbeitet Tag für Tag an der Konsolidierung eines neuen Typs des
       Totalitarismus: Das Zentrum in diesem merkantilen und vom Konsum
       gekennzeichneten Totalitarismus bildet das Geld.
       
       Übersetzung: Rudolf Balmer
       
       17 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Redeker
   DIR Robert Redecker
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Sport trotz Corona
   DIR Kolumne Press-Schlag
   DIR Radsport
   DIR Fußball
   DIR Champions League
   DIR Fußball
   DIR Sportler
   DIR Tennis
   DIR Tennis
   DIR Fußball
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Apokalypse in den Sportnachrichten: Krach, bumm, kawumm!
       
       Ein Trainer-, Liga- und TV-Beben! Diese Sportwoche ist wieder einmal
       gefüllt von Katastrophen. Und Rettung ist weit und breit nicht in Sicht!
       
   DIR Hibbard über Radsport und Philosophie: „Das Leiden ist interessant“
       
       Nietzsche, Sartre und zwei Räder. James Hibbard war Radprofi, nun ist er
       Philosophie-Dozent. Radfahren hat ihm die Grenzen des westlichen Denkens
       aufgezeigt.
       
   DIR Kolumne Über Ball und die Welt: Der große Plan
       
       Die Volksrepublik China will Weltfußballmacht werden. Bis 2022 sollen drei
       chinesische Vereinsmannschaften zur Weltklasse gehören.
       
   DIR Popmusikerin Sophie Hunger und Fußball: Fans sind manchmal dumm
       
       Die Schweizer Musikerin Sophie Hunger liebt Musik und Fußball. Auf ihrem
       aktuellen Album singt sie mit dem Exfußballer Éric Cantona.
       
   DIR Achtelfinale Champions League: Paris und Lissabon liegen vorn
       
       Im Achtelfinale der Champions League schlug Paris Saint-Germain den FC
       Chelsea. St. Petersburg verlor gegen Benfica Lissabon.
       
   DIR Kolumne Pressschlag: Das Runde muss aufs Eckige
       
       Der runde Bauch ist auf dem Fußballplatz nur noch selten zu sehen. Warum
       Rauchen, Saufen und Fressen die Rettung für den Fußball sind.
       
   DIR Debatte Totalitärer Sport: Inspiration und Innovation
       
       Robert Redeker beschwerte sich neulich, dass es überall nur noch Sport
       gebe. Darüber sollten Intellektuelle nicht schimpfen. Eine Antwort.
       
   DIR Experte über Manipulation im Tennis: „Warum im Drogenhandel bleiben?“
       
       Sportradar-Geschäftsführer Andreas Krannich überraschen die vielen
       verschobenen Tennisspiele nicht. Er erklärt, was den Sportbetrug so
       attraktiv macht.
       
   DIR Mutmaßlicher Tennis-Skandal: Manipulationsverdacht bei Spielern
       
       Nach Medienberichten haben 16 Tennisprofis der Top 50 in den letzten zehn
       Jahren Spiele manipuliert. ATP-Chef Kermode wies die Vorwürfe entschieden
       zurück.
       
   DIR De Bruyne wechselt zu Manchester City: Da ist er, der Rekordtransfer
       
       Top-Spieler verloren, 75 Millionen Euro eingenommen: Das Hickhack um Kevin
       de Bruyne ist endlich beendet. Der Ersatz für die Wolfsburger ist schon auf
       dem Weg.