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       # taz.de -- Utopistische Gegenökonomie: Nicht auf die Revolution warten
       
       > Das Bremer Kollektiv Colectivo vertreibt ökologisch und fair erzeugte
       > Waren als Alternative zum entfesselten Markt.
       
   IMG Bild: Träumt von einem Leben ohne Ausbeutung: Dieter Heinrich
       
       BREMEN taz | Reich, Okay, werden immer die anderen, die üppig erben. Aber
       durchwurschteln, so für sich, das klappt schon. Unsere hochgerüstete
       Konsumgesellschaft lässt ihre Individuen überleben. Die Leerstelle Utopie
       zu verwalten, wird Terroristen und der Werbung überlassen. Wer dort nicht
       andockt, dem mangelt es an überindividuellen Aufträgen, die Welt ein
       bisschen menschenfreundlicher, gerechter zu machen.
       
       Wünsche nach Sinn und Autonomie schweben ziellos im Diskursraum. Lediglich
       ab und an blitzt sie noch auf, die Lust auf Alternativen zum neoliberal
       befeuerten Alltag. „Wir warten jedenfalls jetzt nicht, bis irgendwo
       Revolution gemacht wird, wir probieren schon einmal was aus“, sagt die
       norddeutsche Viererbande von Colectivo – ein Projekt, das sich bereits
       durch den Namen auf die politisch aufgeladenen Kollektive der 1970er-Jahre
       bezieht.
       
       ## Unerträgliche Verhältnisse
       
       Die Verantwortlichen finden „die gegenwärtigen gesellschaftlichen
       Verhältnisse unerträglich“, träumen von einem Leben „ohne Ausbeutung und
       Unterdrückung“, wollen die entfremdeten Lohnarbeitsstrukturen des
       charakterverbiegenden und nervenzerrüttenden Markts abschaffen. Bloß wie?
       
       Einfach in Ansätzen eine bessere Gesellschaft vorleben und unter
       kollegialen Bedingungen etwas gesellschaftlich Sinnvolles tun – wie in der
       Kommune Uthlede im niedersächsischen Hagen, Landkreis Cuxhaven, der
       Heimstatt von Colectivo, dem „Kollektivwarenhandel für Alltag, Utopie und
       Widerstand“.
       
       Mit ihm soll ein solidarisches Netzwerk europäischer Kollektive geknüpft
       und deren Waren eine Vertriebsplattform bereitgestellt werden. Mit der
       Gegenökonomie werde auch eine Gegenöffentlichkeit lebendig gehalten, sagen
       die Macher. Colectivo arbeite zudem hierarchiefrei mit kleinen,
       überschaubaren Strukturen, sehe für alle die gleiche Entlohnung vor und
       agiere selbstverwaltet nach dem Konsensprinzip. Jede Woche stehe dies im
       Plenum auf dem Prüfstand.
       
       ## Existenzgründung im Nebenerwerb
       
       Das Gute nach solchen Grundsatzgesprächen sei, anschließend könnten alle
       unabhängig voneinander Entscheidungen fürs ganze Unternehmen treffen. „Dank
       des wechselseitigen Vertrauens im Binnenverhältnis klappt das bei uns sehr
       gut“, meinen die Colectivisten.
       
       Das sind Dieter Heinrich, der seinen Lebensunterhalt derzeit in der
       Erwachsenenbildung verdient, Programmiererin Astrid Scharf sowie zwei
       Studenten der Universität Bremen: Mathias Chrzan widmet sich dort der
       Germanistik, Jan Bönkost der Medienkultur. Beide jobben sich fürs Überleben
       so durch. Alle zusammen versuchen „Existenzgründung im Nebenerwerb“, wie
       Chrzan formuliert. „Damit ist auch die Idee gemeint, das Hobby zum Beruf
       machen.“
       
       Im Juli 2014 gründeten sie dann ihr Unternehmen als OHG. „Weil es keine
       Rechtsform in Deutschland gibt, die dem kooperativen Wirtschaften
       entspricht“, sagt Heinrich. Bei der OHG sind sie alle gleichberechtigt und
       persönlich haftbar. Alle haben einen Euro Einlage investiert und betreiben
       alle die gleiche Selbstausbeutung.
       
       ## In die Zukunft investieren
       
       Ihr aktuelles Engagement gilt als Investition in die Zukunft, denn momentan
       wirft Colectivo kein Geld ab. Heinrich: „Das muss langsam wachsen, wir
       lernen deutschland- und europaweit die Szene gerade erst kennen.“ 2017
       wollen sie davon leben können.
       
       Aus der Kommunebewegung haben sie gelernt, dass nicht alle alles können
       wollen oder müssen. Arbeitsteilung helfe der Professionalisierung. Die
       Geschäfte werden über die Ethik-Bank abgewickelt. Die Waren könnte UPS
       ausliefern, „der einzige Paketdienst, der noch feste, also wenigstens in
       ihrem Arbeitsverhältnis geschützte Angestellte hat“, wie Heinrich sagt.
       
       Solche Fragen drängen, denn das großes Ding plant Colectivo für 2016:
       endlich online gehen mit dem Webshop. Verkauft würden ausschließlich Waren
       aus kollektiver, kooperativer, genossenschaftlicher oder kommunitärer
       Produktion. Vor allem haltbare Lebensmittel, aber auch Kleidung.
       
       „Wir arbeiten mit ehemaligen Gezi-Park-Aktivisten in Istanbul zusammen, die
       haben eine Textilfabrik besetzt, nachdem sie pleite war und der Besitzer
       alle Wertgegenstände verscherbeln wollte. Jetzt werden dort Pullover und
       T-Shirts produziert“, erzählt Heinrich.Auch ein Regal mit
       Colectivo-Angeboten existiert bereits – und zwar in einem kleinen Bremer
       Backwarenshop. Der altlinke Geschäftsinhaber, Salin Alkova, zeigt seine
       Solidarität, indem er die Abholstation kostenlos betreibt. Er selbst
       verkauft seit 2004 Brot und Kuchen, „Gutes von gestern“, zum halben Preis.
       
       Die Online-Plattform könne auch als Buchladen für Werke funktionieren, die
       zum widerständigen Leben aufrufen. Vor allem sollen Bücher verkauft werden
       aus den Verlagen A1, Assoziation A, Edition Fünf, Edition Nautilus,
       Louisoder und Transit, die sich zur Buchkoop Konterbande
       zusammengeschlossen haben.
       
       Gibt es ein konsensfähiges Werk? „Ja, für uns ganz klar
       ‚utopie.gemeinsam.leben‘, der nach 20 Jahren erschienene Nachfolger des
       legendären und lange vergriffen ,Kommunebuchs‘“, sagt Heinrich, der auch
       politische Veranstaltungen organisieren will. Eine Onlinezeitung sei
       ebenfalls in Planung: Per Blog werde über die linke Bewegung und besonders
       über Aktionen der kollektiven Selbstorganisation informiert.
       
       ## Seife aus einer besetzten Fabrik in Thessaloniki
       
       Im Zentrum aber steht der Wunsch, möglichst viele Anbieter aus ganz Europa
       zu vernetzen. „Einige produzieren zwar nur in kleinen Mengen für ihren
       lokalen oder regionalen Markt, so dass internationaler Vertrieb gar nicht
       notwendig ist, andere aber brauchen genau das“, sagt Heinrich.
       
       Auch wenn sich Colectivo auf die Produktionsbedingungen konzentriert, wird
       auf die Qualität und die Handelswege geachtet. Ökologischer Anbau von fair
       gehandelter Bioware – so soll es sein. „Aber wir brauchen dazu nicht diese
       Label der Discounter“, sagt Heinrich. Diese seien gescheitert. Sie sorgten
       nicht für transparente Prozesse, nur fürs gute Gewissen der Käufer. „Bei
       unseren Partnern sind Ökostandards selbstverständlich“, sagt Heinrich. „Das
       ist auch Vertrauenssache.“
       
       Ein ideales Produkt für die Colectivo-Idee ist ein italienischer Perlwein
       aus Rotweintrauben, vegan gefiltert und als Soli-Lambrusco „Ora e sempere“
       abgefüllt. Er stammt von einer Kelterei-Genossenschaft, die 1938 gegründet
       wurde, heute 400 Mitglieder hat und ebenso viele Hektar Weinberge in den
       Voralpen und auf den Hügeln der Provinz Reggio Emilia bewirtschaftet.
       
       Von den 7,50 Euro für eine Flasche Lambrusco gehen 1,50 an das Institut
       Istoreco, ein italienisches Netzwerk von 61 Geschichtswerkstätten, „denen
       die staatliche Unterstützung auf Null heruntergefahren wurde“, wie Chrzan
       berichtet. Bekannt und unterstützenswert sei Istoreco für antirassistische
       Jugendarbeit, Bildungsangebote rund um die Resistenza und die Wanderungen
       mit ehemaligen Partisanen auf Pfaden des antifaschistischen Widerstandes.
       
       Nudeln bezieht Colectivo von Iris, einem Kollektiv von Landwirten in der
       Lombardei, die die Produktionskette in die eigene Hand genommen hat. Die
       Olivenöl-Seife stammt aus einer abgewirtschafteten, besetzten Fabrik in
       Thessalonki. Und der Kaffee kommt vom Hamburger Kollektiv Aroma Zapatista.
       Es unterstützt den indigenen Selbstbestimmungskampf im mexikanischen
       Bundesstaat Chiapas, indem Biokaffee der zapatistischen Kaffeekooperativen
       direkt vermarktet werden.
       
       Düster sieht es in Deutschland aus: Wer auf der [1][Website „Ohne Chef“]
       nachschaut, sieht dort eine Landkarte, die vor allem eine Brachfläche der
       Kollektive ist. „Die in der 68er-Zeit entstandene Bewegung ist
       gescheitert“, meint Heinrich. Er vertritt bei Colectivo die Position der
       Ü50-Menschen, die das selbst erlebt haben.
       
       Seine jüngeren Compañeros versuchen im Uni-Kontext vielfach vergeblich, die
       Ideen an die Frau und den Mann zu bringen. „Im linken Sumpf gilt das zwar
       noch als cool, gemeinschaftlich zu leben und zu arbeiten, aber bei den
       meisten Studenten ist das Thema überhaupt nicht virulent und kaum zu
       vermitteln“, berichtet Chrzan.
       
       ## Angst, die individuelle Freiheit zu verlieren
       
       Kollektive gelten als historisch überholt, es fehlten die Beispiele vor
       Ort. Auch Ängste nehme er wahr, dass individuelle Freiheit denjenigen
       verloren gehe, die sich in ein Kollektiv einordnen. Chrzan: „Dabei ist es
       ganz anders: Gemeinsam ist man stärker, hat eine viele größere Freiheit.“
       
       Eines der Hauptprobleme des kollektiven Warenhandels sieht Heinrich im
       Preis. Wer auf hohe Produktqualität und höchste Biostandards wert legt, auf
       null Ausbeutung achtet und auch noch solidarisch ein paar Euro für fairen
       Handel und andere soziale Projekte drauflegt – der ist immer deutlich
       teurer als die Discounter.
       
       Produzieren Kollektive etwas, was sich kollektiv arbeitende Menschen nicht
       leisten können? Heinrich verneint: „Das gehört doch auch zur Kollektividee:
       Lieber weniger, dafür gute Waren kaufen – statt immer mehr immer
       schlechtere Waren.“
       
       4 Jan 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.ohne-chef.org
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
       ## TAGS
       
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