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       # taz.de -- Dokumentarfilm „Je suis Charlie“: Zum Abschied die „Internationale“
       
       > Daniel und Emmanuel Leconte würdigen die Toten des Attentats auf „Charlie
       > Hebdo“ mit beeindruckendem Archivmaterial.
       
       Schon bevor das erste Bild zu sehen ist, kann man sie hören: die
       Demonstranten. „Liberté! Charlie!“, rufen sie aus dem Off. Man schreibt den
       11. Januar 2015, in ganz Frankreich haben sich 4 Millionen Bürger auf die
       Straße begeben, um gegen die Anschläge vom 7., 8. und 9. Januar zu
       protestieren, um Solidarität mit den Opfern zu zeigen, mit den Toten der
       Redaktion des Magazins Charlie Hebdo und den Toten des jüdischen
       Supermarkts Hyper Cacher.
       
       Im Bild erkennt man Überlebende der Zeitschrift, ansonsten hält die Kamera
       auf die übrige anwesende – anonyme – Bevölkerung. Ans Ohr drängt
       pathetische Orchestermusik.
       
       Mit dieser Eingangsszene verrät der Dokumentarfilm „Je suis Charlie“ von
       Daniel und Emmanuel Leconte schon einen Großteil dessen, worum es ihm geht:
       Der Film will Dokument eines Augenblicks sein, einer Erschütterung, die die
       Morde in Frankreich auslösten, ein Dokument der Fassungslosigkeit und der
       landesweiten Empörung, die folgte. Im weiteren Verlauf werden die beiden
       Filmemacher immer wieder zu den Demonstranten zurückkehren, auch die
       pathetische Musik wird die Zuschauer weiter begleiten. Eine Emphase, auf
       die man gut hätte verzichten können.
       
       Denn „Je suis Charlie“ würdigt die ermordeten Karikaturisten mit Bildern,
       die auf viel stillere Weise ergreifen. So sieht man Cabu und Charb, wie sie
       bei einem Karaoke ihre unterschiedlich gut ausgeprägten Gesangstalente
       erproben. Eine Art Betriebsausflug der Redaktion im Bus mit Albereien.
       
       Und man sieht die Überlebenden von Charlie Hebdo, wie sie in den Räumen der
       Zeitung Libération ihre nächste Ausgabe vorbereiten, Redaktionskonferenzen
       abhalten, Titelentwürfe diskutieren, nicht, als sei nichts gewesen, sondern
       weil die Katastrophe gewesen ist, die auch sie hätte vernichten sollen.
       Gegen die sie sich nachträglich zur Wehr setzen, indem sie ihre Arbeit
       fortsetzen.
       
       ## Über Grenzen des Zumutbaren hinaus.
       
       „Je suis Charlie“ wagt sich auch über Grenzen des Zumutbaren hinaus.
       Insbesondere dann, wenn die Karikaturistin Coco berichtet, wie sie am 7.
       Januar 2015 im Treppenhaus auf die Attentäter traf, die sie anschließend
       zwangen, den Zahlencode für die Tür der Redaktion einzugeben, während sie
       ihr eine Kalaschnikow in den Rücken bohrten.
       
       Coco erzählt zunächst noch fassungslos, später kommen die Tränen, die immer
       heftiger fließen. Man weiß in diesen Momenten nicht recht, wohin als
       Betrachter: Wohnt man einer öffentlichen Traumabewältigung bei, oder wird
       die Schaulust in solchen Momenten schon auf obszöne Weise bedient?
       
       Andererseits sind die Berichte der Überlebenden in ihrer Nüchternheit so
       bewegend, dass man sich mit einem Urteil schwertut. Der Buchhalter Eric
       Portheault etwa war während des Anschlags im Nebenraum, wo er die Schüsse
       hörte und sich auf den Boden legte. Sein Hund, der die Todesschüsse als
       Augenzeuge miterlebt habe, sei irgendwann sehr ruhig herübergekommen und
       habe sich auf sein Gesicht gelegt.
       
       ## Angst vor antisemitischen Anschlägen
       
       Über diese Betroffenheit hinaus fragt der Film nicht danach, wie man die
       Anschläge womöglich als Symptom der Lage Frankreichs oder wie man sie
       überhaupt verstehen könnte. Die Philosophin Élisabeth Badinter äußert sich
       kurz zu den Anschlägen auf den jüdischen Supermarkt mit einem Hinweis auf
       die Angst vor antisemitischen Anschlägen, die schon zuvor geherrscht habe,
       doch vor allzu vielen Fragen schrecken Daniel Leconte und sein Sohn
       Emmanuel zurück.
       
       Andererseits bilden die Filmemacher die nachträglichen Attacken auf das
       Magazin ab, die den Zeichnern obszönerweise indirekt vorwarfen, selbst
       schuld an ihrem Tod gewesen zu sein. Da der Film im Frühjahr schon
       fertiggestellt war, kommen die Pariser Anschläge vom 13. November darin
       nicht vor.
       
       Daniel Leconte hatte 2008 schon mit „C’est dur d’être aimé par des cons“
       („Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden“), einen Dokumentarfilm über
       Charlie Hebdo gedreht, in dem er den Prozess verfolgte, den französische
       Islamverbände 2007 gegen das Magazin geführt hatten, nachdem Charlie Hebdo
       dänische Mohammed-Karikaturen abgedruckt hatte und der Zeichner Cabu eine
       eigene Mohammed-Zeichnung für die Titelseite beigesteuert hatte. Diese
       frühere Arbeit ermöglichte erst das Filmen in der Redaktion unmittelbar
       nach den Morden.
       
       Für diese Bilder allein schon lohnt sich der Film. Oder für Szenen wie die
       Beerdigung der Charlie-Opfer, zu der für den ermordeten Chefredakteur Charb
       die „Internationale“ erklingt. Und für die klare Zurückweisung jedes
       selbstgefälligen „Ja, aber“.
       
       8 Jan 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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